York selbst war in der peinlichsten Lage. Er hatte gehofft, sein Abfall würde die Russen zu rastloser Verfolgung des Feindes ermuthigen, den König zu einem raschen Entschlusse hinreißen, überall im deutschen Norden den Volkskrieg entzünden. Einige Tage lang gaben sich seine Truppen den frohesten Hoffnungen hin; in Tilsit, an der äußersten Ost- mark deutscher Erde, versprach Oberst Below seinen litthauischen Dra- gonern, er werde seinen Säbel nicht niederlegen, bis sie die Thürme von Paris gesehen hätten. Aber Wittgenstein betrieb die Verfolgung so saum- selig, daß Macdonald sich in Königsberg mit den übrigen Resten der großen Armee vereinigen und dann, wenig belästigt, über die Weichsel zurückgehen konnte. Damit die Bewegung nicht ganz ins Stocken ge- riethe mußte York sich zu einem zweiten eigenmächtigen Schritte ent- schließen: am 8. Januar kam er nach Königsberg, übernahm das Com- mando der Provinz. Unbeschreiblicher Jubel empfing ihn, aus dem Munde des Studenten Hans von Auerswald nahm er die feierliche Versicherung entgegen, die preußische Jugend sei bereit, für König und Vaterland in den Tod zu gehen. Die Provinz war des besten Sinnes voll, zu jedem Opfer bereit, obgleich sie furchtbar gelitten und soeben noch durch den Marsch der großen Armee über 33 Millionen Thaler verloren hatte.
Doch was thun ohne die Krone? Dies Volk war monarchisch bis in das Mark der Knochen; wer durfte ihm gebieten anders als im Namen des Königs? Rathlos schwirrten die Meinungen und Vorschläge durch einander. Einige ständische Deputirte richteten eine Eingabe an den König, beschworen ihn, sich an Rußland anzuschließen, den Untergang des ruhmwürdigen deutschen Namens zu verhüten; Andere forderten laut, daß der Landtag sich eigenmächtig versammele und die Aushebung der Landwehr anbefehle. Manchen treuen Beamten quälte die Sorge vor der Ländergier der Russen, die doch noch Feinde waren also nach Völker- recht sich des Landes bemächtigen durften. Noch traten sie überall scho- nend auf; der Ehrgeiz des Czaren war auf Warschau gerichtet und nichts lag ihm in jenen Tagen ferner, als ein arglistiger Anschlag gegen Alt- preußen. Als der heißblütige Bärsch in Königsberg einen Aufruf zur Volks- bewaffnung drucken wollte, versagte der russische Commandant gewissenhaft das Imprimatur: solche Aufrufe dürften nur im Namen des Landesherrn oder seiner Beauftragten erlassen werden. Aber wie lange konnte diese Schonung währen, wenn Preußen sich nicht offen für Rußland erklärte?
Präsident Wißmann eilte mit einigen anderen Beamten nach Berlin, um den Staatskanzler anzuflehen, daß der König um Gotteswillen ein entscheidendes Wort spreche, sonst drohe der Aufruhr oder vielleicht die russische Eroberung. York schrieb an Bülow, versuchte ihn zu bereden, daß er mit seinem Corps gegen die Oder und Elbe aufbreche: "Die Armee will den Krieg gegen Frankreich. Das Volk will ihn, der König will ihn, aber der König hat keinen freien Willen. Die Armee muß ihm
I. 4. Der Befreiungskrieg.
York ſelbſt war in der peinlichſten Lage. Er hatte gehofft, ſein Abfall würde die Ruſſen zu raſtloſer Verfolgung des Feindes ermuthigen, den König zu einem raſchen Entſchluſſe hinreißen, überall im deutſchen Norden den Volkskrieg entzünden. Einige Tage lang gaben ſich ſeine Truppen den froheſten Hoffnungen hin; in Tilſit, an der äußerſten Oſt- mark deutſcher Erde, verſprach Oberſt Below ſeinen litthauiſchen Dra- gonern, er werde ſeinen Säbel nicht niederlegen, bis ſie die Thürme von Paris geſehen hätten. Aber Wittgenſtein betrieb die Verfolgung ſo ſaum- ſelig, daß Macdonald ſich in Königsberg mit den übrigen Reſten der großen Armee vereinigen und dann, wenig beläſtigt, über die Weichſel zurückgehen konnte. Damit die Bewegung nicht ganz ins Stocken ge- riethe mußte York ſich zu einem zweiten eigenmächtigen Schritte ent- ſchließen: am 8. Januar kam er nach Königsberg, übernahm das Com- mando der Provinz. Unbeſchreiblicher Jubel empfing ihn, aus dem Munde des Studenten Hans von Auerswald nahm er die feierliche Verſicherung entgegen, die preußiſche Jugend ſei bereit, für König und Vaterland in den Tod zu gehen. Die Provinz war des beſten Sinnes voll, zu jedem Opfer bereit, obgleich ſie furchtbar gelitten und ſoeben noch durch den Marſch der großen Armee über 33 Millionen Thaler verloren hatte.
Doch was thun ohne die Krone? Dies Volk war monarchiſch bis in das Mark der Knochen; wer durfte ihm gebieten anders als im Namen des Königs? Rathlos ſchwirrten die Meinungen und Vorſchläge durch einander. Einige ſtändiſche Deputirte richteten eine Eingabe an den König, beſchworen ihn, ſich an Rußland anzuſchließen, den Untergang des ruhmwürdigen deutſchen Namens zu verhüten; Andere forderten laut, daß der Landtag ſich eigenmächtig verſammele und die Aushebung der Landwehr anbefehle. Manchen treuen Beamten quälte die Sorge vor der Ländergier der Ruſſen, die doch noch Feinde waren alſo nach Völker- recht ſich des Landes bemächtigen durften. Noch traten ſie überall ſcho- nend auf; der Ehrgeiz des Czaren war auf Warſchau gerichtet und nichts lag ihm in jenen Tagen ferner, als ein argliſtiger Anſchlag gegen Alt- preußen. Als der heißblütige Bärſch in Königsberg einen Aufruf zur Volks- bewaffnung drucken wollte, verſagte der ruſſiſche Commandant gewiſſenhaft das Imprimatur: ſolche Aufrufe dürften nur im Namen des Landesherrn oder ſeiner Beauftragten erlaſſen werden. Aber wie lange konnte dieſe Schonung währen, wenn Preußen ſich nicht offen für Rußland erklärte?
Präſident Wißmann eilte mit einigen anderen Beamten nach Berlin, um den Staatskanzler anzuflehen, daß der König um Gotteswillen ein entſcheidendes Wort ſpreche, ſonſt drohe der Aufruhr oder vielleicht die ruſſiſche Eroberung. York ſchrieb an Bülow, verſuchte ihn zu bereden, daß er mit ſeinem Corps gegen die Oder und Elbe aufbreche: „Die Armee will den Krieg gegen Frankreich. Das Volk will ihn, der König will ihn, aber der König hat keinen freien Willen. Die Armee muß ihm
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I. 4. Der Befreiungskrieg.
York ſelbſt war in der peinlichſten Lage. Er hatte gehofft, ſein
Abfall würde die Ruſſen zu raſtloſer Verfolgung des Feindes ermuthigen,
den König zu einem raſchen Entſchluſſe hinreißen, überall im deutſchen
Norden den Volkskrieg entzünden. Einige Tage lang gaben ſich ſeine
Truppen den froheſten Hoffnungen hin; in Tilſit, an der äußerſten Oſt-
mark deutſcher Erde, verſprach Oberſt Below ſeinen litthauiſchen Dra-
gonern, er werde ſeinen Säbel nicht niederlegen, bis ſie die Thürme von
Paris geſehen hätten. Aber Wittgenſtein betrieb die Verfolgung ſo ſaum-
ſelig, daß Macdonald ſich in Königsberg mit den übrigen Reſten der
großen Armee vereinigen und dann, wenig beläſtigt, über die Weichſel
zurückgehen konnte. Damit die Bewegung nicht ganz ins Stocken ge-
riethe mußte York ſich zu einem zweiten eigenmächtigen Schritte ent-
ſchließen: am 8. Januar kam er nach Königsberg, übernahm das Com-
mando der Provinz. Unbeſchreiblicher Jubel empfing ihn, aus dem Munde
des Studenten Hans von Auerswald nahm er die feierliche Verſicherung
entgegen, die preußiſche Jugend ſei bereit, für König und Vaterland in
den Tod zu gehen. Die Provinz war des beſten Sinnes voll, zu jedem
Opfer bereit, obgleich ſie furchtbar gelitten und ſoeben noch durch den
Marſch der großen Armee über 33 Millionen Thaler verloren hatte.
Doch was thun ohne die Krone? Dies Volk war monarchiſch bis
in das Mark der Knochen; wer durfte ihm gebieten anders als im
Namen des Königs? Rathlos ſchwirrten die Meinungen und Vorſchläge
durch einander. Einige ſtändiſche Deputirte richteten eine Eingabe an
den König, beſchworen ihn, ſich an Rußland anzuſchließen, den Untergang
des ruhmwürdigen deutſchen Namens zu verhüten; Andere forderten laut,
daß der Landtag ſich eigenmächtig verſammele und die Aushebung der
Landwehr anbefehle. Manchen treuen Beamten quälte die Sorge vor
der Ländergier der Ruſſen, die doch noch Feinde waren alſo nach Völker-
recht ſich des Landes bemächtigen durften. Noch traten ſie überall ſcho-
nend auf; der Ehrgeiz des Czaren war auf Warſchau gerichtet und nichts
lag ihm in jenen Tagen ferner, als ein argliſtiger Anſchlag gegen Alt-
preußen. Als der heißblütige Bärſch in Königsberg einen Aufruf zur Volks-
bewaffnung drucken wollte, verſagte der ruſſiſche Commandant gewiſſenhaft
das Imprimatur: ſolche Aufrufe dürften nur im Namen des Landesherrn
oder ſeiner Beauftragten erlaſſen werden. Aber wie lange konnte dieſe
Schonung währen, wenn Preußen ſich nicht offen für Rußland erklärte?
Präſident Wißmann eilte mit einigen anderen Beamten nach Berlin,
um den Staatskanzler anzuflehen, daß der König um Gotteswillen ein
entſcheidendes Wort ſpreche, ſonſt drohe der Aufruhr oder vielleicht die
ruſſiſche Eroberung. York ſchrieb an Bülow, verſuchte ihn zu bereden,
daß er mit ſeinem Corps gegen die Oder und Elbe aufbreche: „Die
Armee will den Krieg gegen Frankreich. Das Volk will ihn, der König
will ihn, aber der König hat keinen freien Willen. Die Armee muß ihm
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/432>, abgerufen am 22.11.2024.
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