Die Stunde für Deutschlands Befreiung hatte geschlagen. Niemand erkannte dies früher als Stein, der den russischen Feldzug von Haus aus nur als ein Vorspiel der deutschen Erhebung betrachtete. Er stand während des Krieges an der Spitze des Deutschen Comites in Peters- burg, betrieb die Ausrüstung der Deutschen Legion, die nach seinen Plänen den Kern des künftigen deutschen Heeres bilden sollte, und scheute sich nicht, unter den Rheinbundstruppen Aufrufe verbreiten zu lassen, die sie zur Fahnenflucht verleiten sollten. Was galten ihm auch die Eide, die den Sklaven des Zwingherrn geschworen waren? Zugleich schrieb der tapfere Arndt seinen Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehr- mann, ein köstliches Volksbuch, das in vielen tausenden von Exemplaren verbreitet, mit seiner einfältigen Wahrhaftigkeit, seiner frommen biblischen Sprache das gläubige Geschlecht im Innersten erschütterte: denn wer Tyrannen bekämpft, ist ein heiliger Mann, und wer Uebermuth steuert thut Gottes Dienst; das ist der Krieg, welcher dem Herrn gefällt; das ist das Blut, dessen Tropfen Gott im Himmel zählt! Bei Hofe kam man dem deutschen Freiherrn anfangs mit Mißtrauen entgegen; doch wie er nun vom ersten Augenblicke an die Niederlage des Feindes unbeirrt voraussagte und in seiner Herzensfreude über die Treue, den Opfermuth, die religiöse Begeisterung des russischen Volkes immer froher und liebens- würdiger wurde, da flogen ihm alle edlen Herzen zu und vor Allen die Frauen empfanden die natürliche Verwandtschaft, welche das sichere Ge- fühl des Weibes mit dem Genius verbindet.
Lange bevor der Untergang der großen Armee sich entschied, schon im September entwarf er Pläne für Deutschlands künftige Verfassung -- das Idealste und Verwegenste was je zuvor über deutsche Politik gedacht worden. Und dies bildet, nächst seiner Theilnahme an der Umgestaltung Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthistorische Verdienst des Mannes: er hat früher und schärfer als irgend ein Staatsmann die Einheit Deutschlands, ohne Phrasen und Vorbehalte, als das höchste Ziel deutscher Staatskunst aufgestellt. Wer ihm von Schonung der althergebrach- ten Zersplitterung redete, dem erwiderte er: einen solchen Zustand wieder- herstellen ist gerade so als wollte man darauf bestehen, daß ein todter Mann auf seinen Beinen stehen solle weil er es thun konnte so lange er noch lebte. Jede Rücksicht auf die Dynastien schien ihm unwürdig: als ob es in Deutschland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg oder Baiern existire, und nicht ob ein starkes, festes kampffähiges deutsches Volk ruhmvoll im Krieg und Frieden dastehe; sollte dieser Krieg dahin führen, daß die alten Streitig- keiten der deutschen Montecchi und Capuletti wieder auflebten, dann wäre der große Kampf mit einem Possenspiele beendigt! Sein Ziel war "die Einheit und, ist sie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang". Jetzt, da der gesammte Länderbestand Europas ins Wanken kam, meinte er selbst das Höchste erreichbar: eine große Monarchie von der Weichsel
I. 3. Preußens Erhebung.
Die Stunde für Deutſchlands Befreiung hatte geſchlagen. Niemand erkannte dies früher als Stein, der den ruſſiſchen Feldzug von Haus aus nur als ein Vorſpiel der deutſchen Erhebung betrachtete. Er ſtand während des Krieges an der Spitze des Deutſchen Comités in Peters- burg, betrieb die Ausrüſtung der Deutſchen Legion, die nach ſeinen Plänen den Kern des künftigen deutſchen Heeres bilden ſollte, und ſcheute ſich nicht, unter den Rheinbundstruppen Aufrufe verbreiten zu laſſen, die ſie zur Fahnenflucht verleiten ſollten. Was galten ihm auch die Eide, die den Sklaven des Zwingherrn geſchworen waren? Zugleich ſchrieb der tapfere Arndt ſeinen Katechismus für den deutſchen Kriegs- und Wehr- mann, ein köſtliches Volksbuch, das in vielen tauſenden von Exemplaren verbreitet, mit ſeiner einfältigen Wahrhaftigkeit, ſeiner frommen bibliſchen Sprache das gläubige Geſchlecht im Innerſten erſchütterte: denn wer Tyrannen bekämpft, iſt ein heiliger Mann, und wer Uebermuth ſteuert thut Gottes Dienſt; das iſt der Krieg, welcher dem Herrn gefällt; das iſt das Blut, deſſen Tropfen Gott im Himmel zählt! Bei Hofe kam man dem deutſchen Freiherrn anfangs mit Mißtrauen entgegen; doch wie er nun vom erſten Augenblicke an die Niederlage des Feindes unbeirrt vorausſagte und in ſeiner Herzensfreude über die Treue, den Opfermuth, die religiöſe Begeiſterung des ruſſiſchen Volkes immer froher und liebens- würdiger wurde, da flogen ihm alle edlen Herzen zu und vor Allen die Frauen empfanden die natürliche Verwandtſchaft, welche das ſichere Ge- fühl des Weibes mit dem Genius verbindet.
Lange bevor der Untergang der großen Armee ſich entſchied, ſchon im September entwarf er Pläne für Deutſchlands künftige Verfaſſung — das Idealſte und Verwegenſte was je zuvor über deutſche Politik gedacht worden. Und dies bildet, nächſt ſeiner Theilnahme an der Umgeſtaltung Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthiſtoriſche Verdienſt des Mannes: er hat früher und ſchärfer als irgend ein Staatsmann die Einheit Deutſchlands, ohne Phraſen und Vorbehalte, als das höchſte Ziel deutſcher Staatskunſt aufgeſtellt. Wer ihm von Schonung der althergebrach- ten Zerſplitterung redete, dem erwiderte er: einen ſolchen Zuſtand wieder- herſtellen iſt gerade ſo als wollte man darauf beſtehen, daß ein todter Mann auf ſeinen Beinen ſtehen ſolle weil er es thun konnte ſo lange er noch lebte. Jede Rückſicht auf die Dynaſtien ſchien ihm unwürdig: als ob es in Deutſchland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg oder Baiern exiſtire, und nicht ob ein ſtarkes, feſtes kampffähiges deutſches Volk ruhmvoll im Krieg und Frieden daſtehe; ſollte dieſer Krieg dahin führen, daß die alten Streitig- keiten der deutſchen Montecchi und Capuletti wieder auflebten, dann wäre der große Kampf mit einem Poſſenſpiele beendigt! Sein Ziel war „die Einheit und, iſt ſie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang“. Jetzt, da der geſammte Länderbeſtand Europas ins Wanken kam, meinte er ſelbſt das Höchſte erreichbar: eine große Monarchie von der Weichſel
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Die Stunde für Deutſchlands Befreiung hatte geſchlagen. Niemand
erkannte dies früher als Stein, der den ruſſiſchen Feldzug von Haus
aus nur als ein Vorſpiel der deutſchen Erhebung betrachtete. Er ſtand
während des Krieges an der Spitze des Deutſchen Comités in Peters-
burg, betrieb die Ausrüſtung der Deutſchen Legion, die nach ſeinen Plänen
den Kern des künftigen deutſchen Heeres bilden ſollte, und ſcheute ſich
nicht, unter den Rheinbundstruppen Aufrufe verbreiten zu laſſen, die ſie
zur Fahnenflucht verleiten ſollten. Was galten ihm auch die Eide, die
den Sklaven des Zwingherrn geſchworen waren? Zugleich ſchrieb der
tapfere Arndt ſeinen Katechismus für den deutſchen Kriegs- und Wehr-
mann, ein köſtliches Volksbuch, das in vielen tauſenden von Exemplaren
verbreitet, mit ſeiner einfältigen Wahrhaftigkeit, ſeiner frommen bibliſchen
Sprache das gläubige Geſchlecht im Innerſten erſchütterte: denn wer
Tyrannen bekämpft, iſt ein heiliger Mann, und wer Uebermuth ſteuert
thut Gottes Dienſt; das iſt der Krieg, welcher dem Herrn gefällt; das
iſt das Blut, deſſen Tropfen Gott im Himmel zählt! Bei Hofe kam man
dem deutſchen Freiherrn anfangs mit Mißtrauen entgegen; doch wie er
nun vom erſten Augenblicke an die Niederlage des Feindes unbeirrt
vorausſagte und in ſeiner Herzensfreude über die Treue, den Opfermuth,
die religiöſe Begeiſterung des ruſſiſchen Volkes immer froher und liebens-
würdiger wurde, da flogen ihm alle edlen Herzen zu und vor Allen die
Frauen empfanden die natürliche Verwandtſchaft, welche das ſichere Ge-
fühl des Weibes mit dem Genius verbindet.
Lange bevor der Untergang der großen Armee ſich entſchied, ſchon
im September entwarf er Pläne für Deutſchlands künftige Verfaſſung —
das Idealſte und Verwegenſte was je zuvor über deutſche Politik gedacht
worden. Und dies bildet, nächſt ſeiner Theilnahme an der Umgeſtaltung
Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthiſtoriſche Verdienſt
des Mannes: er hat früher und ſchärfer als irgend ein Staatsmann die
Einheit Deutſchlands, ohne Phraſen und Vorbehalte, als das höchſte Ziel
deutſcher Staatskunſt aufgeſtellt. Wer ihm von Schonung der althergebrach-
ten Zerſplitterung redete, dem erwiderte er: einen ſolchen Zuſtand wieder-
herſtellen iſt gerade ſo als wollte man darauf beſtehen, daß ein todter Mann
auf ſeinen Beinen ſtehen ſolle weil er es thun konnte ſo lange er noch
lebte. Jede Rückſicht auf die Dynaſtien ſchien ihm unwürdig: als ob es in
Deutſchland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg oder Baiern exiſtire, und
nicht ob ein ſtarkes, feſtes kampffähiges deutſches Volk ruhmvoll im Krieg
und Frieden daſtehe; ſollte dieſer Krieg dahin führen, daß die alten Streitig-
keiten der deutſchen Montecchi und Capuletti wieder auflebten, dann wäre
der große Kampf mit einem Poſſenſpiele beendigt! Sein Ziel war „die
Einheit und, iſt ſie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang“.
Jetzt, da der geſammte Länderbeſtand Europas ins Wanken kam, meinte
er ſelbſt das Höchſte erreichbar: eine große Monarchie von der Weichſel
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/414>, abgerufen am 23.11.2024.
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