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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Rückzug aus Moskau.
hätte er eingestanden, daß er vor dem russischen Heere, das südwärts von
Moskau stand, zurückwich. Er gedachte vielmehr den Feind zu schlagen
und sich den Rückzug auf der südlichen Straße zu erzwingen. Das über-
müthige Unternehmen mißlang; durch die Schlacht von Malo-Jaroslawetz
wurde die große Armee wieder auf die mittlere Straße abgedrängt, welche
sie beim Einmarsch benutzt hatte. Damit war ihr Untergang entschieden.
Der Heuschreckenschwarm mußte denselben Weg zurück, den er schon bis
auf den letzten Halm abgegrast. Die Witterung blieb noch eine Zeit
lang leidlich, und auch als der Frost, ungewöhnlich spät, eintrat, ward
die Kälte kaum ärger als vor sechs Jahren in dem polnisch-ostpreußischen
Feldzuge. Aber vor dem unglücklichen Heere lag die unermeßliche Schnee-
wüste. Kein Dorf, keine Feuerstatt so weit das Auge reichte; alle Vor-
räthe verloren, alles Ansehen der Oberen vernichtet, dazu ringsum die
schwärmenden Kosaken und in den Wäldern die erbitterten Bauern. Alles
Elend, das nur irgend die Sterblichen heimsuchen kann, brach über die
Unseligen herein; es war als ob die Reiter der Apokalypse über die
Schneefelder daherrasten. Nach dem gräuelvollen Uebergange über die
Beresina löste sich jede Ordnung; in regellosen Haufen schleppten sich die
armen Trümmer des stolzen Heeres, insgesammt kaum 30,000 Mann,
dahin -- wankende, hohlwangige Jammergestalten, viele blind und taub
vor Kälte, mit wölfischem Hunger an jedem Aase nagend, waffenlos, in
abenteuerliche Vermummung -- eine gräßliche Maskerade, wie das Volk
in Deutschland spottete, "Trommeln ohne Trommelstock, Kürassier' im
Weiberrock, so hat sie Gott geschlagen mit Roß und Mann und Wagen."
Aber auch der Sieger hatte durch Strapazen und Krankheiten den größten
Theil seines Heeres verloren; kaum 40,000 Russen erreichten die Grenze,
allesammt tief erschöpft und über weite Entfernungen zerstreut, völlig
unfähig zum Kampfe gegen die frischen Truppen Napoleons, welche das
preußische Gebiet besetzt hielten.

Die ersten unsicheren Nachrichten von der Katastrophe gelangten nach
Dänemark, von da durch Dahlmann und seine deutschen Freunde ins
innere Deutschland. Nachher erfuhr man, wie der Imperator, der allein
mit Caulaincourt dem Heere vorauseilte, am 12. December in Glogau
erschienen war, wie er dann in Dresden, gleichmüthig einen Gassenhauer
trällernd, seinem bestürzten Vasallen die Unheilsbotschaft mitgetheilt hatte.
Am 17. December brachte der Moniteur das neunundzwanzigste Bulletin
mit der Nachricht: die große Armee sei vernichtet, die Gesundheit Sr. Ma-
jestät sei niemals besser gewesen. Tags darauf erschien der Imperator
selbst in den Tuilerien. Bald nachher überschritten die Spitzen des
französischen Heeres die preußische Grenze. Mit einem heiligen Entsetzen
betrachtete das Volk die lebendigen Zeugen des geschlagenen Hochmuths,
und von Millionen Lippen klang wie aus einem Munde der Ausruf:
das sind Gottes Gerichte!

Rückzug aus Moskau.
hätte er eingeſtanden, daß er vor dem ruſſiſchen Heere, das ſüdwärts von
Moskau ſtand, zurückwich. Er gedachte vielmehr den Feind zu ſchlagen
und ſich den Rückzug auf der ſüdlichen Straße zu erzwingen. Das über-
müthige Unternehmen mißlang; durch die Schlacht von Malo-Jaroslawetz
wurde die große Armee wieder auf die mittlere Straße abgedrängt, welche
ſie beim Einmarſch benutzt hatte. Damit war ihr Untergang entſchieden.
Der Heuſchreckenſchwarm mußte denſelben Weg zurück, den er ſchon bis
auf den letzten Halm abgegraſt. Die Witterung blieb noch eine Zeit
lang leidlich, und auch als der Froſt, ungewöhnlich ſpät, eintrat, ward
die Kälte kaum ärger als vor ſechs Jahren in dem polniſch-oſtpreußiſchen
Feldzuge. Aber vor dem unglücklichen Heere lag die unermeßliche Schnee-
wüſte. Kein Dorf, keine Feuerſtatt ſo weit das Auge reichte; alle Vor-
räthe verloren, alles Anſehen der Oberen vernichtet, dazu ringsum die
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Elend, das nur irgend die Sterblichen heimſuchen kann, brach über die
Unſeligen herein; es war als ob die Reiter der Apokalypſe über die
Schneefelder daherraſten. Nach dem gräuelvollen Uebergange über die
Bereſina löſte ſich jede Ordnung; in regelloſen Haufen ſchleppten ſich die
armen Trümmer des ſtolzen Heeres, insgeſammt kaum 30,000 Mann,
dahin — wankende, hohlwangige Jammergeſtalten, viele blind und taub
vor Kälte, mit wölfiſchem Hunger an jedem Aaſe nagend, waffenlos, in
abenteuerliche Vermummung — eine gräßliche Maskerade, wie das Volk
in Deutſchland ſpottete, „Trommeln ohne Trommelſtock, Küraſſier’ im
Weiberrock, ſo hat ſie Gott geſchlagen mit Roß und Mann und Wagen.“
Aber auch der Sieger hatte durch Strapazen und Krankheiten den größten
Theil ſeines Heeres verloren; kaum 40,000 Ruſſen erreichten die Grenze,
alleſammt tief erſchöpft und über weite Entfernungen zerſtreut, völlig
unfähig zum Kampfe gegen die friſchen Truppen Napoleons, welche das
preußiſche Gebiet beſetzt hielten.

Die erſten unſicheren Nachrichten von der Kataſtrophe gelangten nach
Dänemark, von da durch Dahlmann und ſeine deutſchen Freunde ins
innere Deutſchland. Nachher erfuhr man, wie der Imperator, der allein
mit Caulaincourt dem Heere vorauseilte, am 12. December in Glogau
erſchienen war, wie er dann in Dresden, gleichmüthig einen Gaſſenhauer
trällernd, ſeinem beſtürzten Vaſallen die Unheilsbotſchaft mitgetheilt hatte.
Am 17. December brachte der Moniteur das neunundzwanzigſte Bulletin
mit der Nachricht: die große Armee ſei vernichtet, die Geſundheit Sr. Ma-
jeſtät ſei niemals beſſer geweſen. Tags darauf erſchien der Imperator
ſelbſt in den Tuilerien. Bald nachher überſchritten die Spitzen des
franzöſiſchen Heeres die preußiſche Grenze. Mit einem heiligen Entſetzen
betrachtete das Volk die lebendigen Zeugen des geſchlagenen Hochmuths,
und von Millionen Lippen klang wie aus einem Munde der Ausruf:
das ſind Gottes Gerichte!

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[397/0413] Rückzug aus Moskau. hätte er eingeſtanden, daß er vor dem ruſſiſchen Heere, das ſüdwärts von Moskau ſtand, zurückwich. Er gedachte vielmehr den Feind zu ſchlagen und ſich den Rückzug auf der ſüdlichen Straße zu erzwingen. Das über- müthige Unternehmen mißlang; durch die Schlacht von Malo-Jaroslawetz wurde die große Armee wieder auf die mittlere Straße abgedrängt, welche ſie beim Einmarſch benutzt hatte. Damit war ihr Untergang entſchieden. Der Heuſchreckenſchwarm mußte denſelben Weg zurück, den er ſchon bis auf den letzten Halm abgegraſt. Die Witterung blieb noch eine Zeit lang leidlich, und auch als der Froſt, ungewöhnlich ſpät, eintrat, ward die Kälte kaum ärger als vor ſechs Jahren in dem polniſch-oſtpreußiſchen Feldzuge. Aber vor dem unglücklichen Heere lag die unermeßliche Schnee- wüſte. Kein Dorf, keine Feuerſtatt ſo weit das Auge reichte; alle Vor- räthe verloren, alles Anſehen der Oberen vernichtet, dazu ringsum die ſchwärmenden Koſaken und in den Wäldern die erbitterten Bauern. Alles Elend, das nur irgend die Sterblichen heimſuchen kann, brach über die Unſeligen herein; es war als ob die Reiter der Apokalypſe über die Schneefelder daherraſten. Nach dem gräuelvollen Uebergange über die Bereſina löſte ſich jede Ordnung; in regelloſen Haufen ſchleppten ſich die armen Trümmer des ſtolzen Heeres, insgeſammt kaum 30,000 Mann, dahin — wankende, hohlwangige Jammergeſtalten, viele blind und taub vor Kälte, mit wölfiſchem Hunger an jedem Aaſe nagend, waffenlos, in abenteuerliche Vermummung — eine gräßliche Maskerade, wie das Volk in Deutſchland ſpottete, „Trommeln ohne Trommelſtock, Küraſſier’ im Weiberrock, ſo hat ſie Gott geſchlagen mit Roß und Mann und Wagen.“ Aber auch der Sieger hatte durch Strapazen und Krankheiten den größten Theil ſeines Heeres verloren; kaum 40,000 Ruſſen erreichten die Grenze, alleſammt tief erſchöpft und über weite Entfernungen zerſtreut, völlig unfähig zum Kampfe gegen die friſchen Truppen Napoleons, welche das preußiſche Gebiet beſetzt hielten. Die erſten unſicheren Nachrichten von der Kataſtrophe gelangten nach Dänemark, von da durch Dahlmann und ſeine deutſchen Freunde ins innere Deutſchland. Nachher erfuhr man, wie der Imperator, der allein mit Caulaincourt dem Heere vorauseilte, am 12. December in Glogau erſchienen war, wie er dann in Dresden, gleichmüthig einen Gaſſenhauer trällernd, ſeinem beſtürzten Vaſallen die Unheilsbotſchaft mitgetheilt hatte. Am 17. December brachte der Moniteur das neunundzwanzigſte Bulletin mit der Nachricht: die große Armee ſei vernichtet, die Geſundheit Sr. Ma- jeſtät ſei niemals beſſer geweſen. Tags darauf erſchien der Imperator ſelbſt in den Tuilerien. Bald nachher überſchritten die Spitzen des franzöſiſchen Heeres die preußiſche Grenze. Mit einem heiligen Entſetzen betrachtete das Volk die lebendigen Zeugen des geſchlagenen Hochmuths, und von Millionen Lippen klang wie aus einem Munde der Ausruf: das ſind Gottes Gerichte!

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/413>, abgerufen am 23.11.2024.