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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Gewerbefreiheit. Agrargesetze.
er dann die Versammlung der Landesdeputirten und zählte noch einmal
die Grundgedanken des neuen Systems auf: ein Jeder solle frei seine
Kräfte benutzen, Niemand dürfe einseitige Lasten tragen; Gleichheit Aller
vor dem Gesetze, freie Bahn für jedes Verdienst; Einheit und Ordnung
in der Verwaltung; so werde in Allen ein Nationalgeist, ein Interesse
und ein Sinn geweckt werden. "Kehren Sie nun -- so rief er endlich aus
-- in Ihre Provinzen zurück und verbreiten Sie dort den guten Geist,
der Sie selbst beseelt. Stärken Sie das Vertrauen zu einer Regierung,
die es so redlich meint!" Seine wirkliche Meinung entsprach diesen freund-
lichen Worten keineswegs. Vielmehr zog er, und gleich ihm der König,
aus dem chaotischen Hin- und Herreden dieser Notabelnversammlung den
richtigen Schluß, daß ein allgemeiner Landtag, jetzt berufen, den Fortgang
der Reformen hemmen müsse. So stand es: nur die Machtvollkommen-
heit der absoluten Krone konnte dem preußischen Volke den Weg zur
Freiheit eröffnen.

Fast gleichzeitig mit der Entlassung der Landesdeputirten erschien die
zweite große Sturzwelle der Hardenbergischen Gesetzgebung. Das Edict
vom 7. Sept. 1811 über die Finanzen berücksichtigte einige Wünsche der
Landesdeputirten, hob das Verbot der Handmühlen sowie die Consum-
tionssteuer auf dem flachen Lande größtentheils wieder auf und belegte
statt dessen das Landvolk mit einer Kopfsteuer. Dagegen widersprach das
am selben Tage beschlossene Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der
Gewerbe schnurstracks den Ansichten der Notabelnversammlung: die Krone
eilte wieder einmal den Anschauungen des Volkes voraus, sie gewährte
vollständige Gewerbefreiheit, dergestalt daß Jeder, der einen Gewerbeschein
löste, Lehrlinge und Gesellen halten, jeder Zünftler aus seiner Innung
austreten, jede Zunft durch Mehrheitsbeschluß oder durch den Befehl der
Landespolizeibehörde aufgelöst werden durfte. Es war ein Schritt von
radicaler Verwegenheit. Nicht ohne Grund klagten Stein und Vincke, man
hätte die Zünfte, statt sie aufzulösen, vielmehr in einem freien Sinne
neugestalten sollen. Weit überwiegend blieb gleichwohl der Segen dieser
kühnen Neuerung. Der kleine Mann genoß fortan in Preußen einer
wirthschaftlichen Freiheit, wie nirgendwo sonst in Deutschland, und obgleich
die Verhältnisse der Kleingewerbe, Dank der Zähigkeit unserer Alltagsge-
wohnheiten, sich weit weniger veränderten als man erwartete, so war es
doch wesentlich der Freiheit des gewerblichen Lebens zu verdanken, daß
die Bevölkerung der Hauptstadt selbst in diesen Jahren der bitteren Noth
unaufhaltsam anwuchs.

Wie dies Gesetz der Städteordnung Steins erst den Abschluß brachte,
so wurden auch die agrarischen Gesetze des Reichsritters erst vollendet
durch die beiden Edicte vom 14. Sept. 1811 über die Regulirung der
bäuerlichen Verhältnisse und über die Beförderung der Landescultur. Dabei
hatte Thaers kundige Hand die Feder mit angesetzt. Die erblichen Besitzer

Gewerbefreiheit. Agrargeſetze.
er dann die Verſammlung der Landesdeputirten und zählte noch einmal
die Grundgedanken des neuen Syſtems auf: ein Jeder ſolle frei ſeine
Kräfte benutzen, Niemand dürfe einſeitige Laſten tragen; Gleichheit Aller
vor dem Geſetze, freie Bahn für jedes Verdienſt; Einheit und Ordnung
in der Verwaltung; ſo werde in Allen ein Nationalgeiſt, ein Intereſſe
und ein Sinn geweckt werden. „Kehren Sie nun — ſo rief er endlich aus
— in Ihre Provinzen zurück und verbreiten Sie dort den guten Geiſt,
der Sie ſelbſt beſeelt. Stärken Sie das Vertrauen zu einer Regierung,
die es ſo redlich meint!“ Seine wirkliche Meinung entſprach dieſen freund-
lichen Worten keineswegs. Vielmehr zog er, und gleich ihm der König,
aus dem chaotiſchen Hin- und Herreden dieſer Notabelnverſammlung den
richtigen Schluß, daß ein allgemeiner Landtag, jetzt berufen, den Fortgang
der Reformen hemmen müſſe. So ſtand es: nur die Machtvollkommen-
heit der abſoluten Krone konnte dem preußiſchen Volke den Weg zur
Freiheit eröffnen.

Faſt gleichzeitig mit der Entlaſſung der Landesdeputirten erſchien die
zweite große Sturzwelle der Hardenbergiſchen Geſetzgebung. Das Edict
vom 7. Sept. 1811 über die Finanzen berückſichtigte einige Wünſche der
Landesdeputirten, hob das Verbot der Handmühlen ſowie die Conſum-
tionsſteuer auf dem flachen Lande größtentheils wieder auf und belegte
ſtatt deſſen das Landvolk mit einer Kopfſteuer. Dagegen widerſprach das
am ſelben Tage beſchloſſene Geſetz über die polizeilichen Verhältniſſe der
Gewerbe ſchnurſtracks den Anſichten der Notabelnverſammlung: die Krone
eilte wieder einmal den Anſchauungen des Volkes voraus, ſie gewährte
vollſtändige Gewerbefreiheit, dergeſtalt daß Jeder, der einen Gewerbeſchein
löſte, Lehrlinge und Geſellen halten, jeder Zünftler aus ſeiner Innung
austreten, jede Zunft durch Mehrheitsbeſchluß oder durch den Befehl der
Landespolizeibehörde aufgelöſt werden durfte. Es war ein Schritt von
radicaler Verwegenheit. Nicht ohne Grund klagten Stein und Vincke, man
hätte die Zünfte, ſtatt ſie aufzulöſen, vielmehr in einem freien Sinne
neugeſtalten ſollen. Weit überwiegend blieb gleichwohl der Segen dieſer
kühnen Neuerung. Der kleine Mann genoß fortan in Preußen einer
wirthſchaftlichen Freiheit, wie nirgendwo ſonſt in Deutſchland, und obgleich
die Verhältniſſe der Kleingewerbe, Dank der Zähigkeit unſerer Alltagsge-
wohnheiten, ſich weit weniger veränderten als man erwartete, ſo war es
doch weſentlich der Freiheit des gewerblichen Lebens zu verdanken, daß
die Bevölkerung der Hauptſtadt ſelbſt in dieſen Jahren der bitteren Noth
unaufhaltſam anwuchs.

Wie dies Geſetz der Städteordnung Steins erſt den Abſchluß brachte,
ſo wurden auch die agrariſchen Geſetze des Reichsritters erſt vollendet
durch die beiden Edicte vom 14. Sept. 1811 über die Regulirung der
bäuerlichen Verhältniſſe und über die Beförderung der Landescultur. Dabei
hatte Thaers kundige Hand die Feder mit angeſetzt. Die erblichen Beſitzer

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[375/0391] Gewerbefreiheit. Agrargeſetze. er dann die Verſammlung der Landesdeputirten und zählte noch einmal die Grundgedanken des neuen Syſtems auf: ein Jeder ſolle frei ſeine Kräfte benutzen, Niemand dürfe einſeitige Laſten tragen; Gleichheit Aller vor dem Geſetze, freie Bahn für jedes Verdienſt; Einheit und Ordnung in der Verwaltung; ſo werde in Allen ein Nationalgeiſt, ein Intereſſe und ein Sinn geweckt werden. „Kehren Sie nun — ſo rief er endlich aus — in Ihre Provinzen zurück und verbreiten Sie dort den guten Geiſt, der Sie ſelbſt beſeelt. Stärken Sie das Vertrauen zu einer Regierung, die es ſo redlich meint!“ Seine wirkliche Meinung entſprach dieſen freund- lichen Worten keineswegs. Vielmehr zog er, und gleich ihm der König, aus dem chaotiſchen Hin- und Herreden dieſer Notabelnverſammlung den richtigen Schluß, daß ein allgemeiner Landtag, jetzt berufen, den Fortgang der Reformen hemmen müſſe. So ſtand es: nur die Machtvollkommen- heit der abſoluten Krone konnte dem preußiſchen Volke den Weg zur Freiheit eröffnen. Faſt gleichzeitig mit der Entlaſſung der Landesdeputirten erſchien die zweite große Sturzwelle der Hardenbergiſchen Geſetzgebung. Das Edict vom 7. Sept. 1811 über die Finanzen berückſichtigte einige Wünſche der Landesdeputirten, hob das Verbot der Handmühlen ſowie die Conſum- tionsſteuer auf dem flachen Lande größtentheils wieder auf und belegte ſtatt deſſen das Landvolk mit einer Kopfſteuer. Dagegen widerſprach das am ſelben Tage beſchloſſene Geſetz über die polizeilichen Verhältniſſe der Gewerbe ſchnurſtracks den Anſichten der Notabelnverſammlung: die Krone eilte wieder einmal den Anſchauungen des Volkes voraus, ſie gewährte vollſtändige Gewerbefreiheit, dergeſtalt daß Jeder, der einen Gewerbeſchein löſte, Lehrlinge und Geſellen halten, jeder Zünftler aus ſeiner Innung austreten, jede Zunft durch Mehrheitsbeſchluß oder durch den Befehl der Landespolizeibehörde aufgelöſt werden durfte. Es war ein Schritt von radicaler Verwegenheit. Nicht ohne Grund klagten Stein und Vincke, man hätte die Zünfte, ſtatt ſie aufzulöſen, vielmehr in einem freien Sinne neugeſtalten ſollen. Weit überwiegend blieb gleichwohl der Segen dieſer kühnen Neuerung. Der kleine Mann genoß fortan in Preußen einer wirthſchaftlichen Freiheit, wie nirgendwo ſonſt in Deutſchland, und obgleich die Verhältniſſe der Kleingewerbe, Dank der Zähigkeit unſerer Alltagsge- wohnheiten, ſich weit weniger veränderten als man erwartete, ſo war es doch weſentlich der Freiheit des gewerblichen Lebens zu verdanken, daß die Bevölkerung der Hauptſtadt ſelbſt in dieſen Jahren der bitteren Noth unaufhaltſam anwuchs. Wie dies Geſetz der Städteordnung Steins erſt den Abſchluß brachte, ſo wurden auch die agrariſchen Geſetze des Reichsritters erſt vollendet durch die beiden Edicte vom 14. Sept. 1811 über die Regulirung der bäuerlichen Verhältniſſe und über die Beförderung der Landescultur. Dabei hatte Thaers kundige Hand die Feder mit angeſetzt. Die erblichen Beſitzer

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/391>, abgerufen am 22.11.2024.