gerathen hatte. Sie verlangten die volle Souveränität sowie das Recht freien diplomatischen Verkehres, sie wollten ihr Rheinbunds-Contingent durch Geldzahlungen abkaufen und hofften eine Zeit lang um so zuversicht- licher auf die Erfüllung ihrer Wünsche, da inzwischen (1. März 1810) Nord-Hannover "für immer" mit dem Königreich Westphalen vereinigt wurde.
Bald aber wurde der Imperator wieder anderen Sinnes. Eine neue Dünenbildung sollte aus dem Flugsande dieser zertrümmerten Staaten- welt emporsteigen. Napoleon entthronte seinen Bruder Ludwig von Hol- land, riß das Münsterland von dem bergischen Herzogthume ab, nahm das soeben an Jerome verschenkte nördliche Hannover wieder zurück und vereinigte alle diese Lande, mitsammt Oldenburg und den Hansestädten, mit dem Kaiserreiche (10. Dec. 1810). Das Alles war einfach "durch die Umstände geboten". Zu den sieben deutschen Departements des linken Rheinufers traten fünf niederdeutsche hinzu. Die Marken der unmittel- baren Herrschaft des Kaisers erstreckten sich im Süden bis über Rom hinaus, im Norden bei Lübeck bis an die Ostsee. Durch den Besitz der gesammten Nordseeküste schien die Durchführung der Continentalsperre endlich gesichert. Ein Kanal, binnen fünf Jahren zu vollenden, sollte den Strand der Ostsee mit der Hauptstadt der Welt verbinden. Blieb das Glück dem Vermessenen hold, so war die Einverleibung noch anderer deutscher Lande nur noch eine Frage der Zeit; besaß der Imperator doch bereits tief im Innern der Rheinbundsstaaten eine Menge von Domänen, die er theils sich selber vorbehielt, theils an seine Würdenträger als Do- tationen vertheilte. Schon mehrmals hatte das Geschick den Trunkenen an die Schranken alles irdischen Wollens erinnert: bei Eylau, bei Aspern und in Spanien. Er achtete es nicht. Sein Reich war jetzt größer denn je, seine Träume flogen bis über die Grenzen des Menschlichen hinaus. Er beklagte bitter, daß er sich nicht, wie einst Alexander, für den Sohn eines Gottes ausgeben könne: "jedes Fischweib würde mich auslachen; die Welt ist heute zu aufgeklärt, es giebt nichts Großes mehr zu thun!" Die Einverleibung von Spanien und Italien war längst beschlossene Sache. Nur noch ein letzter siegreicher Vormarsch Massenas gegen Lissa- bon; dann sollte ein kaiserliches Decret, das bereits fertig vorlag, den Völkern der iberischen Halbinsel verkünden, daß auch sie jetzt dem großen Reiche angehörten und ihr Kaiser Herr sei über alle Küsten vom Sunde bis zu den Dardanellen: "Der Dreizack wird sich mit dem Schwerte ver- einen und Neptun sich mit Mars verbinden zur Errichtung des römischen Reiches unserer Tage. Vom Rhein bis zum atlantischen Ocean, von der Schelde bis zum adriatischen Meere wird es nur ein Volk, einen Willen, eine Sprache geben!" --
So war die Lage der Welt, als Hardenberg die Leitung der preußi- schen Politik übernahm. Wenige Wochen nach seinem Eintritt traf den
I. 3. Preußens Erhebung.
gerathen hatte. Sie verlangten die volle Souveränität ſowie das Recht freien diplomatiſchen Verkehres, ſie wollten ihr Rheinbunds-Contingent durch Geldzahlungen abkaufen und hofften eine Zeit lang um ſo zuverſicht- licher auf die Erfüllung ihrer Wünſche, da inzwiſchen (1. März 1810) Nord-Hannover „für immer“ mit dem Königreich Weſtphalen vereinigt wurde.
Bald aber wurde der Imperator wieder anderen Sinnes. Eine neue Dünenbildung ſollte aus dem Flugſande dieſer zertrümmerten Staaten- welt emporſteigen. Napoleon entthronte ſeinen Bruder Ludwig von Hol- land, riß das Münſterland von dem bergiſchen Herzogthume ab, nahm das ſoeben an Jerome verſchenkte nördliche Hannover wieder zurück und vereinigte alle dieſe Lande, mitſammt Oldenburg und den Hanſeſtädten, mit dem Kaiſerreiche (10. Dec. 1810). Das Alles war einfach „durch die Umſtände geboten“. Zu den ſieben deutſchen Departements des linken Rheinufers traten fünf niederdeutſche hinzu. Die Marken der unmittel- baren Herrſchaft des Kaiſers erſtreckten ſich im Süden bis über Rom hinaus, im Norden bei Lübeck bis an die Oſtſee. Durch den Beſitz der geſammten Nordſeeküſte ſchien die Durchführung der Continentalſperre endlich geſichert. Ein Kanal, binnen fünf Jahren zu vollenden, ſollte den Strand der Oſtſee mit der Hauptſtadt der Welt verbinden. Blieb das Glück dem Vermeſſenen hold, ſo war die Einverleibung noch anderer deutſcher Lande nur noch eine Frage der Zeit; beſaß der Imperator doch bereits tief im Innern der Rheinbundsſtaaten eine Menge von Domänen, die er theils ſich ſelber vorbehielt, theils an ſeine Würdenträger als Do- tationen vertheilte. Schon mehrmals hatte das Geſchick den Trunkenen an die Schranken alles irdiſchen Wollens erinnert: bei Eylau, bei Aspern und in Spanien. Er achtete es nicht. Sein Reich war jetzt größer denn je, ſeine Träume flogen bis über die Grenzen des Menſchlichen hinaus. Er beklagte bitter, daß er ſich nicht, wie einſt Alexander, für den Sohn eines Gottes ausgeben könne: „jedes Fiſchweib würde mich auslachen; die Welt iſt heute zu aufgeklärt, es giebt nichts Großes mehr zu thun!“ Die Einverleibung von Spanien und Italien war längſt beſchloſſene Sache. Nur noch ein letzter ſiegreicher Vormarſch Maſſenas gegen Liſſa- bon; dann ſollte ein kaiſerliches Decret, das bereits fertig vorlag, den Völkern der iberiſchen Halbinſel verkünden, daß auch ſie jetzt dem großen Reiche angehörten und ihr Kaiſer Herr ſei über alle Küſten vom Sunde bis zu den Dardanellen: „Der Dreizack wird ſich mit dem Schwerte ver- einen und Neptun ſich mit Mars verbinden zur Errichtung des römiſchen Reiches unſerer Tage. Vom Rhein bis zum atlantiſchen Ocean, von der Schelde bis zum adriatiſchen Meere wird es nur ein Volk, einen Willen, eine Sprache geben!“ —
So war die Lage der Welt, als Hardenberg die Leitung der preußi- ſchen Politik übernahm. Wenige Wochen nach ſeinem Eintritt traf den
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0380"n="364"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> 3. Preußens Erhebung.</fw><lb/>
gerathen hatte. Sie verlangten die volle Souveränität ſowie das Recht<lb/>
freien diplomatiſchen Verkehres, ſie wollten ihr Rheinbunds-Contingent<lb/>
durch Geldzahlungen abkaufen und hofften eine Zeit lang um ſo zuverſicht-<lb/>
licher auf die Erfüllung ihrer Wünſche, da inzwiſchen (1. März 1810)<lb/>
Nord-Hannover „für immer“ mit dem Königreich Weſtphalen vereinigt<lb/>
wurde.</p><lb/><p>Bald aber wurde der Imperator wieder anderen Sinnes. Eine neue<lb/>
Dünenbildung ſollte aus dem Flugſande dieſer zertrümmerten Staaten-<lb/>
welt emporſteigen. Napoleon entthronte ſeinen Bruder Ludwig von Hol-<lb/>
land, riß das Münſterland von dem bergiſchen Herzogthume ab, nahm<lb/>
das ſoeben an Jerome verſchenkte nördliche Hannover wieder zurück und<lb/>
vereinigte alle dieſe Lande, mitſammt Oldenburg und den Hanſeſtädten,<lb/>
mit dem Kaiſerreiche (10. Dec. 1810). Das Alles war einfach „durch<lb/>
die Umſtände geboten“. Zu den ſieben deutſchen Departements des linken<lb/>
Rheinufers traten fünf niederdeutſche hinzu. Die Marken der unmittel-<lb/>
baren Herrſchaft des Kaiſers erſtreckten ſich im Süden bis über Rom<lb/>
hinaus, im Norden bei Lübeck bis an die Oſtſee. Durch den Beſitz der<lb/>
geſammten Nordſeeküſte ſchien die Durchführung der Continentalſperre<lb/>
endlich geſichert. Ein Kanal, binnen fünf Jahren zu vollenden, ſollte den<lb/>
Strand der Oſtſee mit der Hauptſtadt der Welt verbinden. Blieb das<lb/>
Glück dem Vermeſſenen hold, ſo war die Einverleibung noch anderer<lb/>
deutſcher Lande nur noch eine Frage der Zeit; beſaß der Imperator doch<lb/>
bereits tief im Innern der Rheinbundsſtaaten eine Menge von Domänen,<lb/>
die er theils ſich ſelber vorbehielt, theils an ſeine Würdenträger als Do-<lb/>
tationen vertheilte. Schon mehrmals hatte das Geſchick den Trunkenen<lb/>
an die Schranken alles irdiſchen Wollens erinnert: bei Eylau, bei Aspern<lb/>
und in Spanien. Er achtete es nicht. Sein Reich war jetzt größer denn<lb/>
je, ſeine Träume flogen bis über die Grenzen des Menſchlichen hinaus.<lb/>
Er beklagte bitter, daß er ſich nicht, wie einſt Alexander, für den Sohn<lb/>
eines Gottes ausgeben könne: „jedes Fiſchweib würde mich auslachen;<lb/>
die Welt iſt heute zu aufgeklärt, es giebt nichts Großes mehr zu thun!“<lb/>
Die Einverleibung von Spanien und Italien war längſt beſchloſſene<lb/>
Sache. Nur noch ein letzter ſiegreicher Vormarſch Maſſenas gegen Liſſa-<lb/>
bon; dann ſollte ein kaiſerliches Decret, das bereits fertig vorlag, den<lb/>
Völkern der iberiſchen Halbinſel verkünden, daß auch ſie jetzt dem großen<lb/>
Reiche angehörten und ihr Kaiſer Herr ſei über alle Küſten vom Sunde<lb/>
bis zu den Dardanellen: „Der Dreizack wird ſich mit dem Schwerte ver-<lb/>
einen und Neptun ſich mit Mars verbinden zur Errichtung des römiſchen<lb/>
Reiches unſerer Tage. Vom Rhein bis zum atlantiſchen Ocean, von<lb/>
der Schelde bis zum adriatiſchen Meere wird es nur ein Volk, einen<lb/>
Willen, eine Sprache geben!“—</p><lb/><p>So war die Lage der Welt, als Hardenberg die Leitung der preußi-<lb/>ſchen Politik übernahm. Wenige Wochen nach ſeinem Eintritt traf den<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[364/0380]
I. 3. Preußens Erhebung.
gerathen hatte. Sie verlangten die volle Souveränität ſowie das Recht
freien diplomatiſchen Verkehres, ſie wollten ihr Rheinbunds-Contingent
durch Geldzahlungen abkaufen und hofften eine Zeit lang um ſo zuverſicht-
licher auf die Erfüllung ihrer Wünſche, da inzwiſchen (1. März 1810)
Nord-Hannover „für immer“ mit dem Königreich Weſtphalen vereinigt
wurde.
Bald aber wurde der Imperator wieder anderen Sinnes. Eine neue
Dünenbildung ſollte aus dem Flugſande dieſer zertrümmerten Staaten-
welt emporſteigen. Napoleon entthronte ſeinen Bruder Ludwig von Hol-
land, riß das Münſterland von dem bergiſchen Herzogthume ab, nahm
das ſoeben an Jerome verſchenkte nördliche Hannover wieder zurück und
vereinigte alle dieſe Lande, mitſammt Oldenburg und den Hanſeſtädten,
mit dem Kaiſerreiche (10. Dec. 1810). Das Alles war einfach „durch
die Umſtände geboten“. Zu den ſieben deutſchen Departements des linken
Rheinufers traten fünf niederdeutſche hinzu. Die Marken der unmittel-
baren Herrſchaft des Kaiſers erſtreckten ſich im Süden bis über Rom
hinaus, im Norden bei Lübeck bis an die Oſtſee. Durch den Beſitz der
geſammten Nordſeeküſte ſchien die Durchführung der Continentalſperre
endlich geſichert. Ein Kanal, binnen fünf Jahren zu vollenden, ſollte den
Strand der Oſtſee mit der Hauptſtadt der Welt verbinden. Blieb das
Glück dem Vermeſſenen hold, ſo war die Einverleibung noch anderer
deutſcher Lande nur noch eine Frage der Zeit; beſaß der Imperator doch
bereits tief im Innern der Rheinbundsſtaaten eine Menge von Domänen,
die er theils ſich ſelber vorbehielt, theils an ſeine Würdenträger als Do-
tationen vertheilte. Schon mehrmals hatte das Geſchick den Trunkenen
an die Schranken alles irdiſchen Wollens erinnert: bei Eylau, bei Aspern
und in Spanien. Er achtete es nicht. Sein Reich war jetzt größer denn
je, ſeine Träume flogen bis über die Grenzen des Menſchlichen hinaus.
Er beklagte bitter, daß er ſich nicht, wie einſt Alexander, für den Sohn
eines Gottes ausgeben könne: „jedes Fiſchweib würde mich auslachen;
die Welt iſt heute zu aufgeklärt, es giebt nichts Großes mehr zu thun!“
Die Einverleibung von Spanien und Italien war längſt beſchloſſene
Sache. Nur noch ein letzter ſiegreicher Vormarſch Maſſenas gegen Liſſa-
bon; dann ſollte ein kaiſerliches Decret, das bereits fertig vorlag, den
Völkern der iberiſchen Halbinſel verkünden, daß auch ſie jetzt dem großen
Reiche angehörten und ihr Kaiſer Herr ſei über alle Küſten vom Sunde
bis zu den Dardanellen: „Der Dreizack wird ſich mit dem Schwerte ver-
einen und Neptun ſich mit Mars verbinden zur Errichtung des römiſchen
Reiches unſerer Tage. Vom Rhein bis zum atlantiſchen Ocean, von
der Schelde bis zum adriatiſchen Meere wird es nur ein Volk, einen
Willen, eine Sprache geben!“ —
So war die Lage der Welt, als Hardenberg die Leitung der preußi-
ſchen Politik übernahm. Wenige Wochen nach ſeinem Eintritt traf den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/380>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.