Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.I. 3. Preußens Erhebung. Wehrpflicht werde eine massenhafte Auswanderung veranlassen, und wolltenicht begreifen, was der Eintritt gebildeter junger Männer in die Reihen der Mannschaft nützen solle, da doch die kräftigen Leute aus den niederen Klassen die besten Soldaten abgäben. Die Offiziere hingegen, Scharn- horst, Boyen, Hake, Rauch, beriefen sich auf den im Allgemeinen Land- recht anerkannten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetze; sie fanden es ungerecht, daß der Unbemittelte zugleich Steuern zahlen und doch allein die Last des Waffendienstes tragen solle; sie erinnerten an die Ar- muth jener beiden Klassen, welche für den preußischen Staat das Größte leisteten, des Adels und des Beamtenthums; ja sie wagten zu behaupten was damals noch als eine Ketzerei erschien: die gebildete Jugend stelle die brauchbarsten Soldaten, denn sie bringe eine sittliche Kraft, das Princip der Ehre, in das Heer, während die ärmeren Klassen nur selten eine dauernde Anhänglichkeit an das Vaterland haben könnten. In Frankreich, erklärte Scharnhorst, habe die Stellvertretung einen unsittlichen Seelen- handel hervorgerufen; bei dem mannhaften Römervolke dagegen sei der Waffendienst ein Ehrenrecht der höheren Stände gewesen. Weder das Ministerium Dohna-Altenstein noch späterhin Hardenberg vermochte sich zu dieser ethischen Auffassung des Kriegswesens, welche Steins vollen Beifall fand, zu erheben, und überdies war die Einstellung aller Wehr- fähigen unmöglich so lange der Staat nur 42,000 Mann Truppen halten durfte. Der große Plan blieb liegen bis zu der guten Stunde, da der Krieg erklärt und die Fesseln des September-Vertrags gesprengt wurden. Unterdessen war Wilhelm von Humboldt an die Spitze des Unter- nicht Schmerz ist Unglück, Glück nicht immer Freude: wer sein Geschick erfüllt, dem lächeln beide. I. 3. Preußens Erhebung. Wehrpflicht werde eine maſſenhafte Auswanderung veranlaſſen, und wolltenicht begreifen, was der Eintritt gebildeter junger Männer in die Reihen der Mannſchaft nützen ſolle, da doch die kräftigen Leute aus den niederen Klaſſen die beſten Soldaten abgäben. Die Offiziere hingegen, Scharn- horſt, Boyen, Hake, Rauch, beriefen ſich auf den im Allgemeinen Land- recht anerkannten Grundſatz der Gleichheit vor dem Geſetze; ſie fanden es ungerecht, daß der Unbemittelte zugleich Steuern zahlen und doch allein die Laſt des Waffendienſtes tragen ſolle; ſie erinnerten an die Ar- muth jener beiden Klaſſen, welche für den preußiſchen Staat das Größte leiſteten, des Adels und des Beamtenthums; ja ſie wagten zu behaupten was damals noch als eine Ketzerei erſchien: die gebildete Jugend ſtelle die brauchbarſten Soldaten, denn ſie bringe eine ſittliche Kraft, das Princip der Ehre, in das Heer, während die ärmeren Klaſſen nur ſelten eine dauernde Anhänglichkeit an das Vaterland haben könnten. In Frankreich, erklärte Scharnhorſt, habe die Stellvertretung einen unſittlichen Seelen- handel hervorgerufen; bei dem mannhaften Römervolke dagegen ſei der Waffendienſt ein Ehrenrecht der höheren Stände geweſen. Weder das Miniſterium Dohna-Altenſtein noch ſpäterhin Hardenberg vermochte ſich zu dieſer ethiſchen Auffaſſung des Kriegsweſens, welche Steins vollen Beifall fand, zu erheben, und überdies war die Einſtellung aller Wehr- fähigen unmöglich ſo lange der Staat nur 42,000 Mann Truppen halten durfte. Der große Plan blieb liegen bis zu der guten Stunde, da der Krieg erklärt und die Feſſeln des September-Vertrags geſprengt wurden. Unterdeſſen war Wilhelm von Humboldt an die Spitze des Unter- nicht Schmerz iſt Unglück, Glück nicht immer Freude: wer ſein Geſchick erfüllt, dem lächeln beide. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0350" n="334"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 3. 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I. 3. Preußens Erhebung.
Wehrpflicht werde eine maſſenhafte Auswanderung veranlaſſen, und wollte
nicht begreifen, was der Eintritt gebildeter junger Männer in die Reihen
der Mannſchaft nützen ſolle, da doch die kräftigen Leute aus den niederen
Klaſſen die beſten Soldaten abgäben. Die Offiziere hingegen, Scharn-
horſt, Boyen, Hake, Rauch, beriefen ſich auf den im Allgemeinen Land-
recht anerkannten Grundſatz der Gleichheit vor dem Geſetze; ſie fanden
es ungerecht, daß der Unbemittelte zugleich Steuern zahlen und doch
allein die Laſt des Waffendienſtes tragen ſolle; ſie erinnerten an die Ar-
muth jener beiden Klaſſen, welche für den preußiſchen Staat das Größte
leiſteten, des Adels und des Beamtenthums; ja ſie wagten zu behaupten
was damals noch als eine Ketzerei erſchien: die gebildete Jugend ſtelle
die brauchbarſten Soldaten, denn ſie bringe eine ſittliche Kraft, das Princip
der Ehre, in das Heer, während die ärmeren Klaſſen nur ſelten eine
dauernde Anhänglichkeit an das Vaterland haben könnten. In Frankreich,
erklärte Scharnhorſt, habe die Stellvertretung einen unſittlichen Seelen-
handel hervorgerufen; bei dem mannhaften Römervolke dagegen ſei der
Waffendienſt ein Ehrenrecht der höheren Stände geweſen. Weder das
Miniſterium Dohna-Altenſtein noch ſpäterhin Hardenberg vermochte ſich
zu dieſer ethiſchen Auffaſſung des Kriegsweſens, welche Steins vollen
Beifall fand, zu erheben, und überdies war die Einſtellung aller Wehr-
fähigen unmöglich ſo lange der Staat nur 42,000 Mann Truppen halten
durfte. Der große Plan blieb liegen bis zu der guten Stunde, da der
Krieg erklärt und die Feſſeln des September-Vertrags geſprengt wurden.
Unterdeſſen war Wilhelm von Humboldt an die Spitze des Unter-
richtsweſens getreten, jener perikleiſche Staatsmann, der zuerſt mit voller
Klarheit erkannte, Preußens Beruf ſei „durch wahre Aufklärung und
höhere Geiſtesbildung“ den erſten Rang in Deutſchland zu behaupten.
Keiner hatte ſo wie er in den Ideen und Geſtalten der claſſiſchen Dich-
tung geſchwelgt und den Becher der Schönheit ſo bis zur Hefe geleert.
Keiner unter allen Nordländern ſtand den Univerſalgenies des Cinque-
cento ſo nahe, wie dieſer allſeitige Geiſt, der, heimiſch in allen Freuden
der Sinnlichkeit und auf allen Gebieten des Denkens, zugänglich jedem
Eindruck und doch immer geſammelt und ganz bei ſich ſelber, „das wahr-
haft ſchöne, von Kälte und Schwärmerei gleich ferne Daſein“ des ganzen
Menſchen führte. Das Idealbild der freien Perſönlichkeit ward Fleiſch
und Blut in dieſem Ariſtokraten des Geiſtes. Sich ſelber auszuleben, die
reiche Fülle ſeiner Gaben in einem ſchönen Wechſel von Genuß und That
harmoniſch zu entfalten, in gelaſſener Sicherheit erhaben über allem
äußeren Zufall, das Leben ſelbſt zu einem Kunſtwerke zu geſtalten — das
war ihm die höchſte Weisheit:
nicht Schmerz iſt Unglück, Glück nicht immer Freude:
wer ſein Geſchick erfüllt, dem lächeln beide.
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