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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Hauses zu mehren, sondern sich redlich bemühten in ihren engen Gebieten
die politischen Pflichten zu erfüllen, denen das Reich sich versagte. Das
Kaiserhaus lebte seinen europäischen Plänen, der Reichstag haderte um
leere Formen; in den Territorien wurde regiert. Hier allein fanden
das Recht, der Wohlstand, die Bildung des deutschen Volkes Schutz und
Pflege. Unsere Fürsten hatten einst das Kleinod deutscher Geistesfreiheit
gerettet im Kampfe gegen das Haus Habsburg. In der langen matten
Friedenszeit nachher blühte jene treufleißige Kurfürstenpolitik, die, jedes
großen Gedankens baar, ängstlich zurückschreckend vor den geschwinden
Händeln der europäischen Kämpfe, ihre wohlwollende Sorgfalt allein
dem Gedeihen des eignen Ländchens widmete. Die durch wunderliche
Glücksfälle zusammengewürfelten Ländertrümmer verwuchsen nach und nach
zu einer kümmerlichen politischen Gemeinschaft. Die Territorien wurden
zu Staaten. In der Enge ihres Sonderlebens bildete sich ein neuer
Particularismus. Der Kursachse, der Kurpfälzer, der Braunschweig-
Lüneburger hing mit fester Treue an dem angestammten Fürstenhause,
das so lange Freud' und Leid mit seinem Völkchen getheilt. In der Hand
der landesfürstlichen Obrigkeit lag sein und seiner Kinder Glück;
das große Vaterland ward ihm zu einer dunkeln Sage. Nach dem
dreißigjährigen Kriege waren es wieder die Landesherren, nicht Kaiser
und Reich, die dem Bürger und Bauern halfen seine verwüsteten Wohn-
plätze aufzubauen, kärgliche Trümmer des alten Wohlstandes aus der
großen Zerstörung zu retten; ihrem Karl Ludwig dankte die Pfalz die
Wiederkehr froherer Tage. Dies weltliche Fürstenthum, das mit seiner
dreisten Selbstsucht jedes Band nationaler Gemeinschaft zu zersprengen
drohte, stand doch rührig und wirksam mitten im Leben der Nation. War
ein Neubau des deutschen Gesammtstaates noch möglich, so konnte er
nur auf dem Boden dieser Territorialgewalten sich erheben. --

In solchem Chaos von Widersprüchen hatte jede Institution des
Reichs ihren Sinn, jedes Recht seine Sicherheit verloren. Der Mehrer
des Reichs mehrte seine Hausmacht zu Deutschlands Schaden. Das ehr-
würdige Amt des Reichskanzlers in Germanien, der vormals der natürliche
Führer der Nation in allen ihren Verfassungskämpfen gewesen, ward in
den Händen des Mainzer Erzbischofs nach und nach ein gefügiges Werk-
zeug österreichisch-katholischer Parteipolitik. Die Wahlcapitulation, vor
Zeiten bestimmt den dynastischen Mißbrauch der kaiserlichen Gewalt zu
verhindern, diente jetzt die dynastische Willkür der Landesherren von jedem
Zwange zu entfesseln. Der Reichstag hatte sich gleich den Generalstaaten
der Niederlande aus einer Ständeversammlung thatsächlich in einen
Bundestag verwandelt und vermochte doch niemals, wie jene, ein gesundes
bündisches Leben auszubilden. Ueberall widersprachen die Formen des
Rechtes den lebendigen Mächten der Geschichte. Die Reichsverfassung legte
das Recht der Mehrheit in die Hand der schwächsten Stände; sie zwang

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Hauſes zu mehren, ſondern ſich redlich bemühten in ihren engen Gebieten
die politiſchen Pflichten zu erfüllen, denen das Reich ſich verſagte. Das
Kaiſerhaus lebte ſeinen europäiſchen Plänen, der Reichstag haderte um
leere Formen; in den Territorien wurde regiert. Hier allein fanden
das Recht, der Wohlſtand, die Bildung des deutſchen Volkes Schutz und
Pflege. Unſere Fürſten hatten einſt das Kleinod deutſcher Geiſtesfreiheit
gerettet im Kampfe gegen das Haus Habsburg. In der langen matten
Friedenszeit nachher blühte jene treufleißige Kurfürſtenpolitik, die, jedes
großen Gedankens baar, ängſtlich zurückſchreckend vor den geſchwinden
Händeln der europäiſchen Kämpfe, ihre wohlwollende Sorgfalt allein
dem Gedeihen des eignen Ländchens widmete. Die durch wunderliche
Glücksfälle zuſammengewürfelten Ländertrümmer verwuchſen nach und nach
zu einer kümmerlichen politiſchen Gemeinſchaft. Die Territorien wurden
zu Staaten. In der Enge ihres Sonderlebens bildete ſich ein neuer
Particularismus. Der Kurſachſe, der Kurpfälzer, der Braunſchweig-
Lüneburger hing mit feſter Treue an dem angeſtammten Fürſtenhauſe,
das ſo lange Freud’ und Leid mit ſeinem Völkchen getheilt. In der Hand
der landesfürſtlichen Obrigkeit lag ſein und ſeiner Kinder Glück;
das große Vaterland ward ihm zu einer dunkeln Sage. Nach dem
dreißigjährigen Kriege waren es wieder die Landesherren, nicht Kaiſer
und Reich, die dem Bürger und Bauern halfen ſeine verwüſteten Wohn-
plätze aufzubauen, kärgliche Trümmer des alten Wohlſtandes aus der
großen Zerſtörung zu retten; ihrem Karl Ludwig dankte die Pfalz die
Wiederkehr froherer Tage. Dies weltliche Fürſtenthum, das mit ſeiner
dreiſten Selbſtſucht jedes Band nationaler Gemeinſchaft zu zerſprengen
drohte, ſtand doch rührig und wirkſam mitten im Leben der Nation. War
ein Neubau des deutſchen Geſammtſtaates noch möglich, ſo konnte er
nur auf dem Boden dieſer Territorialgewalten ſich erheben. —

In ſolchem Chaos von Widerſprüchen hatte jede Inſtitution des
Reichs ihren Sinn, jedes Recht ſeine Sicherheit verloren. Der Mehrer
des Reichs mehrte ſeine Hausmacht zu Deutſchlands Schaden. Das ehr-
würdige Amt des Reichskanzlers in Germanien, der vormals der natürliche
Führer der Nation in allen ihren Verfaſſungskämpfen geweſen, ward in
den Händen des Mainzer Erzbiſchofs nach und nach ein gefügiges Werk-
zeug öſterreichiſch-katholiſcher Parteipolitik. Die Wahlcapitulation, vor
Zeiten beſtimmt den dynaſtiſchen Mißbrauch der kaiſerlichen Gewalt zu
verhindern, diente jetzt die dynaſtiſche Willkür der Landesherren von jedem
Zwange zu entfeſſeln. Der Reichstag hatte ſich gleich den Generalſtaaten
der Niederlande aus einer Ständeverſammlung thatſächlich in einen
Bundestag verwandelt und vermochte doch niemals, wie jene, ein geſundes
bündiſches Leben auszubilden. Ueberall widerſprachen die Formen des
Rechtes den lebendigen Mächten der Geſchichte. Die Reichsverfaſſung legte
das Recht der Mehrheit in die Hand der ſchwächſten Stände; ſie zwang

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[18/0034] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Hauſes zu mehren, ſondern ſich redlich bemühten in ihren engen Gebieten die politiſchen Pflichten zu erfüllen, denen das Reich ſich verſagte. Das Kaiſerhaus lebte ſeinen europäiſchen Plänen, der Reichstag haderte um leere Formen; in den Territorien wurde regiert. Hier allein fanden das Recht, der Wohlſtand, die Bildung des deutſchen Volkes Schutz und Pflege. Unſere Fürſten hatten einſt das Kleinod deutſcher Geiſtesfreiheit gerettet im Kampfe gegen das Haus Habsburg. In der langen matten Friedenszeit nachher blühte jene treufleißige Kurfürſtenpolitik, die, jedes großen Gedankens baar, ängſtlich zurückſchreckend vor den geſchwinden Händeln der europäiſchen Kämpfe, ihre wohlwollende Sorgfalt allein dem Gedeihen des eignen Ländchens widmete. Die durch wunderliche Glücksfälle zuſammengewürfelten Ländertrümmer verwuchſen nach und nach zu einer kümmerlichen politiſchen Gemeinſchaft. Die Territorien wurden zu Staaten. In der Enge ihres Sonderlebens bildete ſich ein neuer Particularismus. Der Kurſachſe, der Kurpfälzer, der Braunſchweig- Lüneburger hing mit feſter Treue an dem angeſtammten Fürſtenhauſe, das ſo lange Freud’ und Leid mit ſeinem Völkchen getheilt. In der Hand der landesfürſtlichen Obrigkeit lag ſein und ſeiner Kinder Glück; das große Vaterland ward ihm zu einer dunkeln Sage. Nach dem dreißigjährigen Kriege waren es wieder die Landesherren, nicht Kaiſer und Reich, die dem Bürger und Bauern halfen ſeine verwüſteten Wohn- plätze aufzubauen, kärgliche Trümmer des alten Wohlſtandes aus der großen Zerſtörung zu retten; ihrem Karl Ludwig dankte die Pfalz die Wiederkehr froherer Tage. Dies weltliche Fürſtenthum, das mit ſeiner dreiſten Selbſtſucht jedes Band nationaler Gemeinſchaft zu zerſprengen drohte, ſtand doch rührig und wirkſam mitten im Leben der Nation. War ein Neubau des deutſchen Geſammtſtaates noch möglich, ſo konnte er nur auf dem Boden dieſer Territorialgewalten ſich erheben. — In ſolchem Chaos von Widerſprüchen hatte jede Inſtitution des Reichs ihren Sinn, jedes Recht ſeine Sicherheit verloren. Der Mehrer des Reichs mehrte ſeine Hausmacht zu Deutſchlands Schaden. Das ehr- würdige Amt des Reichskanzlers in Germanien, der vormals der natürliche Führer der Nation in allen ihren Verfaſſungskämpfen geweſen, ward in den Händen des Mainzer Erzbiſchofs nach und nach ein gefügiges Werk- zeug öſterreichiſch-katholiſcher Parteipolitik. Die Wahlcapitulation, vor Zeiten beſtimmt den dynaſtiſchen Mißbrauch der kaiſerlichen Gewalt zu verhindern, diente jetzt die dynaſtiſche Willkür der Landesherren von jedem Zwange zu entfeſſeln. Der Reichstag hatte ſich gleich den Generalſtaaten der Niederlande aus einer Ständeverſammlung thatſächlich in einen Bundestag verwandelt und vermochte doch niemals, wie jene, ein geſundes bündiſches Leben auszubilden. Ueberall widerſprachen die Formen des Rechtes den lebendigen Mächten der Geſchichte. Die Reichsverfaſſung legte das Recht der Mehrheit in die Hand der ſchwächſten Stände; ſie zwang

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/34>, abgerufen am 20.04.2024.