Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Foederalismus und Territorialismus.
ordnung niemals festen Boden gewonnen. Hier waren die geistlichen
Gebiete seit dem Westphälischen Frieden fast gänzlich vernichtet, die
mächtigen weltlichen Fürsten meinten sich selber zu genügen. Wie
aus einer hellen modernen Welt blickte der Norddeutsche hochmüthig
hinüber nach jenem bunten Gewirr der Kleinstaaterei im Südwesten, das
er spottend "das Reich" nannte. Was noch jung und stark war im
alten Deutschland, strebte aus den beengenden Formen der Reichsver-
fassung hinaus.

Der Particularismus des weltlichen Fürstenthums blieb doch die
lebendigste politische Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der
That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutscher
Fürsten. Seine Stände besaßen seit dem Westphälischen Frieden das
Recht der Bündnisse und die Landeshoheit in geistlichen wie in weltlichen
Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der
Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem
Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümer
emporgewachsenen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet,
keiner einen selbständigen deutschen Stamm; sie dankten allesammt ihr
Dasein einer dynastischen Staatskunst, die durch Krieg und Heirath, durch
Kauf und Tausch, durch Verdienst und Verrath einzelne Fetzen des zer-
rissenen Reiches zusammenzuraffen und festzuhalten verstand. Diese
Hauspolitik ergab sich nothwendig aus der Reichsverfassung selber.
Die Nation war mediatisirt, nur die Herrengeschlechter galten als Reichs-
unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, sondern die
Fürstenhäuser vertreten; das Glaubensbekenntniß des fürstlichen Hauses,
nicht des Volkes, entschied über die Frage, ob ein Reichsstand den Evan-
gelischen oder den Katholiken zuzuzählen sei; kurz, das Reichsrecht kannte
keine Staaten, sondern nur Land und Leute fürstlicher Häuser. Die
Wechselfälle einer wirrenreichen Geschichte hatten die Grenzen der Terri-
torien beharrlich durch einander geschoben, jede Achtung vor dem Be-
sitzstande der Genossen, jeden eidgenössischen Rechtssinn im deutschen
Fürstenstande ertödet. Begehrlich sah der Nachbar auf des Nachbars
Land, stets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen.
Die Ländergier und der Dynastenstolz der großen Fürstengeschlechter be-
drohten das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Längst strebten Sachsen und
Baiern nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte seine niederrheinischen Lande
zu einem Königreich bei Rhein zu erheben und also der Oberhoheit des
Reiches ledig zu werden.

Gleichwohl lag in dem Leben dieser weltlichen Fürstenthümer nahezu
Alles umschlossen, was noch deutsche Politik heißen konnte. Es bleibt
der historische Ruhm unseres hohen Adels, daß Deutschlands Fürsten die
der nationalen Monarchie entrissene Macht nicht wie die polnischen
Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 2

Foederalismus und Territorialismus.
ordnung niemals feſten Boden gewonnen. Hier waren die geiſtlichen
Gebiete ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden faſt gänzlich vernichtet, die
mächtigen weltlichen Fürſten meinten ſich ſelber zu genügen. Wie
aus einer hellen modernen Welt blickte der Norddeutſche hochmüthig
hinüber nach jenem bunten Gewirr der Kleinſtaaterei im Südweſten, das
er ſpottend „das Reich“ nannte. Was noch jung und ſtark war im
alten Deutſchland, ſtrebte aus den beengenden Formen der Reichsver-
faſſung hinaus.

Der Particularismus des weltlichen Fürſtenthums blieb doch die
lebendigſte politiſche Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der
That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutſcher
Fürſten. Seine Stände beſaßen ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden das
Recht der Bündniſſe und die Landeshoheit in geiſtlichen wie in weltlichen
Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der
Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem
Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümer
emporgewachſenen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet,
keiner einen ſelbſtändigen deutſchen Stamm; ſie dankten alleſammt ihr
Daſein einer dynaſtiſchen Staatskunſt, die durch Krieg und Heirath, durch
Kauf und Tauſch, durch Verdienſt und Verrath einzelne Fetzen des zer-
riſſenen Reiches zuſammenzuraffen und feſtzuhalten verſtand. Dieſe
Hauspolitik ergab ſich nothwendig aus der Reichsverfaſſung ſelber.
Die Nation war mediatiſirt, nur die Herrengeſchlechter galten als Reichs-
unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, ſondern die
Fürſtenhäuſer vertreten; das Glaubensbekenntniß des fürſtlichen Hauſes,
nicht des Volkes, entſchied über die Frage, ob ein Reichsſtand den Evan-
geliſchen oder den Katholiken zuzuzählen ſei; kurz, das Reichsrecht kannte
keine Staaten, ſondern nur Land und Leute fürſtlicher Häuſer. Die
Wechſelfälle einer wirrenreichen Geſchichte hatten die Grenzen der Terri-
torien beharrlich durch einander geſchoben, jede Achtung vor dem Be-
ſitzſtande der Genoſſen, jeden eidgenöſſiſchen Rechtsſinn im deutſchen
Fürſtenſtande ertödet. Begehrlich ſah der Nachbar auf des Nachbars
Land, ſtets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen.
Die Ländergier und der Dynaſtenſtolz der großen Fürſtengeſchlechter be-
drohten das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Längſt ſtrebten Sachſen und
Baiern nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte ſeine niederrheiniſchen Lande
zu einem Königreich bei Rhein zu erheben und alſo der Oberhoheit des
Reiches ledig zu werden.

Gleichwohl lag in dem Leben dieſer weltlichen Fürſtenthümer nahezu
Alles umſchloſſen, was noch deutſche Politik heißen konnte. Es bleibt
der hiſtoriſche Ruhm unſeres hohen Adels, daß Deutſchlands Fürſten die
der nationalen Monarchie entriſſene Macht nicht wie die polniſchen
Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0033" n="17"/><fw place="top" type="header">Foederalismus und Territorialismus.</fw><lb/>
ordnung niemals fe&#x017F;ten Boden gewonnen. Hier waren die gei&#x017F;tlichen<lb/>
Gebiete &#x017F;eit dem We&#x017F;tphäli&#x017F;chen Frieden fa&#x017F;t gänzlich vernichtet, die<lb/>
mächtigen weltlichen Für&#x017F;ten meinten &#x017F;ich &#x017F;elber zu genügen. Wie<lb/>
aus einer hellen modernen Welt blickte der Norddeut&#x017F;che hochmüthig<lb/>
hinüber nach jenem bunten Gewirr der Klein&#x017F;taaterei im Südwe&#x017F;ten, das<lb/>
er &#x017F;pottend &#x201E;das Reich&#x201C; nannte. Was noch jung und &#x017F;tark war im<lb/>
alten Deut&#x017F;chland, &#x017F;trebte aus den beengenden Formen der Reichsver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung hinaus.</p><lb/>
            <p>Der Particularismus des weltlichen Für&#x017F;tenthums blieb doch die<lb/>
lebendig&#x017F;te politi&#x017F;che Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der<lb/>
That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deut&#x017F;cher<lb/>
Für&#x017F;ten. Seine Stände be&#x017F;aßen &#x017F;eit dem We&#x017F;tphäli&#x017F;chen Frieden das<lb/>
Recht der Bündni&#x017F;&#x017F;e und die Landeshoheit in gei&#x017F;tlichen wie in weltlichen<lb/>
Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der<lb/>
Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem<lb/>
Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümer<lb/>
emporgewach&#x017F;enen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet,<lb/>
keiner einen &#x017F;elb&#x017F;tändigen deut&#x017F;chen Stamm; &#x017F;ie dankten alle&#x017F;ammt ihr<lb/>
Da&#x017F;ein einer dyna&#x017F;ti&#x017F;chen Staatskun&#x017F;t, die durch Krieg und Heirath, durch<lb/>
Kauf und Tau&#x017F;ch, durch Verdien&#x017F;t und Verrath einzelne Fetzen des zer-<lb/>
ri&#x017F;&#x017F;enen Reiches zu&#x017F;ammenzuraffen und fe&#x017F;tzuhalten ver&#x017F;tand. Die&#x017F;e<lb/>
Hauspolitik ergab &#x017F;ich nothwendig aus der Reichsverfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;elber.<lb/>
Die Nation war mediati&#x017F;irt, nur die Herrenge&#x017F;chlechter galten als Reichs-<lb/>
unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, &#x017F;ondern die<lb/>
Für&#x017F;tenhäu&#x017F;er vertreten; das Glaubensbekenntniß des für&#x017F;tlichen Hau&#x017F;es,<lb/>
nicht des Volkes, ent&#x017F;chied über die Frage, ob ein Reichs&#x017F;tand den Evan-<lb/>
geli&#x017F;chen oder den Katholiken zuzuzählen &#x017F;ei; kurz, das Reichsrecht kannte<lb/>
keine Staaten, &#x017F;ondern nur Land und Leute für&#x017F;tlicher Häu&#x017F;er. Die<lb/>
Wech&#x017F;elfälle einer wirrenreichen Ge&#x017F;chichte hatten die Grenzen der Terri-<lb/>
torien beharrlich durch einander ge&#x017F;choben, jede Achtung vor dem Be-<lb/>
&#x017F;itz&#x017F;tande der Geno&#x017F;&#x017F;en, jeden eidgenö&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Rechts&#x017F;inn im deut&#x017F;chen<lb/>
Für&#x017F;ten&#x017F;tande ertödet. Begehrlich &#x017F;ah der Nachbar auf des Nachbars<lb/>
Land, &#x017F;tets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen.<lb/>
Die Ländergier und der Dyna&#x017F;ten&#x017F;tolz der großen Für&#x017F;tenge&#x017F;chlechter be-<lb/>
drohten das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Läng&#x017F;t &#x017F;trebten Sach&#x017F;en und<lb/>
Baiern nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte &#x017F;eine niederrheini&#x017F;chen Lande<lb/>
zu einem Königreich bei Rhein zu erheben und al&#x017F;o der Oberhoheit des<lb/>
Reiches ledig zu werden.</p><lb/>
            <p>Gleichwohl lag in dem Leben die&#x017F;er weltlichen Für&#x017F;tenthümer nahezu<lb/>
Alles um&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, was noch deut&#x017F;che Politik heißen konnte. Es bleibt<lb/>
der hi&#x017F;tori&#x017F;che Ruhm un&#x017F;eres hohen Adels, daß Deut&#x017F;chlands Für&#x017F;ten die<lb/>
der nationalen Monarchie entri&#x017F;&#x017F;ene Macht nicht wie die polni&#x017F;chen<lb/>
Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Treit&#x017F;chke</hi>, Deut&#x017F;che Ge&#x017F;chichte. <hi rendition="#aq">I.</hi> 2</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0033] Foederalismus und Territorialismus. ordnung niemals feſten Boden gewonnen. Hier waren die geiſtlichen Gebiete ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden faſt gänzlich vernichtet, die mächtigen weltlichen Fürſten meinten ſich ſelber zu genügen. Wie aus einer hellen modernen Welt blickte der Norddeutſche hochmüthig hinüber nach jenem bunten Gewirr der Kleinſtaaterei im Südweſten, das er ſpottend „das Reich“ nannte. Was noch jung und ſtark war im alten Deutſchland, ſtrebte aus den beengenden Formen der Reichsver- faſſung hinaus. Der Particularismus des weltlichen Fürſtenthums blieb doch die lebendigſte politiſche Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutſcher Fürſten. Seine Stände beſaßen ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden das Recht der Bündniſſe und die Landeshoheit in geiſtlichen wie in weltlichen Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümer emporgewachſenen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet, keiner einen ſelbſtändigen deutſchen Stamm; ſie dankten alleſammt ihr Daſein einer dynaſtiſchen Staatskunſt, die durch Krieg und Heirath, durch Kauf und Tauſch, durch Verdienſt und Verrath einzelne Fetzen des zer- riſſenen Reiches zuſammenzuraffen und feſtzuhalten verſtand. Dieſe Hauspolitik ergab ſich nothwendig aus der Reichsverfaſſung ſelber. Die Nation war mediatiſirt, nur die Herrengeſchlechter galten als Reichs- unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, ſondern die Fürſtenhäuſer vertreten; das Glaubensbekenntniß des fürſtlichen Hauſes, nicht des Volkes, entſchied über die Frage, ob ein Reichsſtand den Evan- geliſchen oder den Katholiken zuzuzählen ſei; kurz, das Reichsrecht kannte keine Staaten, ſondern nur Land und Leute fürſtlicher Häuſer. Die Wechſelfälle einer wirrenreichen Geſchichte hatten die Grenzen der Terri- torien beharrlich durch einander geſchoben, jede Achtung vor dem Be- ſitzſtande der Genoſſen, jeden eidgenöſſiſchen Rechtsſinn im deutſchen Fürſtenſtande ertödet. Begehrlich ſah der Nachbar auf des Nachbars Land, ſtets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen. Die Ländergier und der Dynaſtenſtolz der großen Fürſtengeſchlechter be- drohten das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Längſt ſtrebten Sachſen und Baiern nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte ſeine niederrheiniſchen Lande zu einem Königreich bei Rhein zu erheben und alſo der Oberhoheit des Reiches ledig zu werden. Gleichwohl lag in dem Leben dieſer weltlichen Fürſtenthümer nahezu Alles umſchloſſen, was noch deutſche Politik heißen konnte. Es bleibt der hiſtoriſche Ruhm unſeres hohen Adels, daß Deutſchlands Fürſten die der nationalen Monarchie entriſſene Macht nicht wie die polniſchen Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/33
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/33>, abgerufen am 21.11.2024.