Der Minister gab dem Gesetze sofort einen größeren Sinn, verlangte die Ausdehnung der Reform auf das gesammte Staatsgebiet. Seit er po- litisch zu denken vermochte hatte er die Unfreiheit des Landvolks als den Fluch unseres Nordostens betrachtet; jetzt schien es ihm an der Zeit, dies uralte Leiden endlich zu heilen, mit einem kühnen Schritte das Ziel zu erreichen, worauf die Gesetze der Hohenzollern seit Friedrich Wilhelm I. immer mit halbem Erfolge hingearbeitet hatten. Der König stimmte freudig zu; die tapfere Zuversicht des Ministers erweckte ihm den Muth ernstlich zu wollen was er sein Lebelang nur gehofft und gewünscht. So erschien denn am 9. October 1807 das Edict über den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums -- die Habeas Corpus Acte Preußens, wie Schoen sagte. In anspruchslosen Formen ward eine tief- greifende sociale Revolution vollzogen: etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Staates gewannen die unbeschränkte persönliche Freiheit, am Martini- tage 1810 sollte es nur noch freie Leute in Preußen geben. Dasselbe Gesetz vernichtete mit einem Schlage die ständische Ordnung des frideri- cianischen Staates. Der Edelmann erhielt das Recht, ein Bauer zu wer- den und bürgerliche Gewerbe zu treiben -- ein Recht, das zugleich als Ersatz galt für die bisherige Bevorzugung des Adels in der Armee. Jede Art von Grundbesitz und Geschäftsbetrieb war fortan jedem Preußen zugänglich.
Aber Stein war nicht gewillt, die alten volksfreundlichen Grundsätze der Monarchie preiszugeben und unter dem Vorwande des freien Wett- bewerbs die Vernichtung des kleinen Grundbesitzes zu erlauben; ein freier kräftiger Bauernstand erschien ihm als die festeste Stütze des Staates, als der Kern der Wehrkraft. Darum wurde den Rittergutsbesitzern das Auskaufen der Bauergüter nur unter Beschränkungen und mit Zustim- mung der Staatsbehörden gestattet. Und während Schoen, getreu den Dogmen der englischen Freihandelsschule, den Untergang der alten land- sässigen Geschlechter als eine unabänderliche wirthschaftliche Nothwendig- keit hinnehmen wollte, griff Stein den verschuldeten Großgrundbesitzern mit einem General-Indult unter die Arme. So gelang es, dem Landadel über die nächste schwere Zeit hinwegzuhelfen, die Mehrzahl der Rittergüter ihren alten Besitzern zu erhalten. Ebenso maßvoll bei aller Kühnheit war auch das neue Edict, das den Einsassen der Domänen in Ost- und Westpreußen, etwa 47,000 bäuerlichen Familien, das freie Eigenthum ver- lieh: sie sollten befugt sein, drei Viertel der auf ihren Gütern haftenden Dienste und Abgaben binnen vierundzwanzig Jahren durch Geldzahlun- gen abzulösen. Ein Viertel blieb als unablösliche Contribution fortbe- stehen; Stein verwarf die vollständige Beseitigung aller dinglichen Lasten der Bauerngüter als eine allzu radikale Störung der gewohnten Besitz- verhältnisse. Daran schloß sich die Aufhebung des Mühlenzwanges, der Zünfte und Verkaufsmonopolien für Bäcker, Schlächter und Höker. Ver- wandlung aller Dienste und Naturalabgaben in Geldzahlungen, Beseitigung
I. 3. Preußens Erhebung.
Der Miniſter gab dem Geſetze ſofort einen größeren Sinn, verlangte die Ausdehnung der Reform auf das geſammte Staatsgebiet. Seit er po- litiſch zu denken vermochte hatte er die Unfreiheit des Landvolks als den Fluch unſeres Nordoſtens betrachtet; jetzt ſchien es ihm an der Zeit, dies uralte Leiden endlich zu heilen, mit einem kühnen Schritte das Ziel zu erreichen, worauf die Geſetze der Hohenzollern ſeit Friedrich Wilhelm I. immer mit halbem Erfolge hingearbeitet hatten. Der König ſtimmte freudig zu; die tapfere Zuverſicht des Miniſters erweckte ihm den Muth ernſtlich zu wollen was er ſein Lebelang nur gehofft und gewünſcht. So erſchien denn am 9. October 1807 das Edict über den erleichterten Beſitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums — die Habeas Corpus Acte Preußens, wie Schoen ſagte. In anſpruchsloſen Formen ward eine tief- greifende ſociale Revolution vollzogen: etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Staates gewannen die unbeſchränkte perſönliche Freiheit, am Martini- tage 1810 ſollte es nur noch freie Leute in Preußen geben. Daſſelbe Geſetz vernichtete mit einem Schlage die ſtändiſche Ordnung des frideri- cianiſchen Staates. Der Edelmann erhielt das Recht, ein Bauer zu wer- den und bürgerliche Gewerbe zu treiben — ein Recht, das zugleich als Erſatz galt für die bisherige Bevorzugung des Adels in der Armee. Jede Art von Grundbeſitz und Geſchäftsbetrieb war fortan jedem Preußen zugänglich.
Aber Stein war nicht gewillt, die alten volksfreundlichen Grundſätze der Monarchie preiszugeben und unter dem Vorwande des freien Wett- bewerbs die Vernichtung des kleinen Grundbeſitzes zu erlauben; ein freier kräftiger Bauernſtand erſchien ihm als die feſteſte Stütze des Staates, als der Kern der Wehrkraft. Darum wurde den Rittergutsbeſitzern das Auskaufen der Bauergüter nur unter Beſchränkungen und mit Zuſtim- mung der Staatsbehörden geſtattet. Und während Schoen, getreu den Dogmen der engliſchen Freihandelsſchule, den Untergang der alten land- ſäſſigen Geſchlechter als eine unabänderliche wirthſchaftliche Nothwendig- keit hinnehmen wollte, griff Stein den verſchuldeten Großgrundbeſitzern mit einem General-Indult unter die Arme. So gelang es, dem Landadel über die nächſte ſchwere Zeit hinwegzuhelfen, die Mehrzahl der Rittergüter ihren alten Beſitzern zu erhalten. Ebenſo maßvoll bei aller Kühnheit war auch das neue Edict, das den Einſaſſen der Domänen in Oſt- und Weſtpreußen, etwa 47,000 bäuerlichen Familien, das freie Eigenthum ver- lieh: ſie ſollten befugt ſein, drei Viertel der auf ihren Gütern haftenden Dienſte und Abgaben binnen vierundzwanzig Jahren durch Geldzahlun- gen abzulöſen. Ein Viertel blieb als unablösliche Contribution fortbe- ſtehen; Stein verwarf die vollſtändige Beſeitigung aller dinglichen Laſten der Bauerngüter als eine allzu radikale Störung der gewohnten Beſitz- verhältniſſe. Daran ſchloß ſich die Aufhebung des Mühlenzwanges, der Zünfte und Verkaufsmonopolien für Bäcker, Schlächter und Höker. Ver- wandlung aller Dienſte und Naturalabgaben in Geldzahlungen, Beſeitigung
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I. 3. Preußens Erhebung.
Der Miniſter gab dem Geſetze ſofort einen größeren Sinn, verlangte die
Ausdehnung der Reform auf das geſammte Staatsgebiet. Seit er po-
litiſch zu denken vermochte hatte er die Unfreiheit des Landvolks als den
Fluch unſeres Nordoſtens betrachtet; jetzt ſchien es ihm an der Zeit, dies
uralte Leiden endlich zu heilen, mit einem kühnen Schritte das Ziel zu
erreichen, worauf die Geſetze der Hohenzollern ſeit Friedrich Wilhelm I.
immer mit halbem Erfolge hingearbeitet hatten. Der König ſtimmte freudig
zu; die tapfere Zuverſicht des Miniſters erweckte ihm den Muth ernſtlich
zu wollen was er ſein Lebelang nur gehofft und gewünſcht. So erſchien
denn am 9. October 1807 das Edict über den erleichterten Beſitz und
den freien Gebrauch des Grundeigenthums — die Habeas Corpus Acte
Preußens, wie Schoen ſagte. In anſpruchsloſen Formen ward eine tief-
greifende ſociale Revolution vollzogen: etwa zwei Drittel der Bevölkerung
des Staates gewannen die unbeſchränkte perſönliche Freiheit, am Martini-
tage 1810 ſollte es nur noch freie Leute in Preußen geben. Daſſelbe
Geſetz vernichtete mit einem Schlage die ſtändiſche Ordnung des frideri-
cianiſchen Staates. Der Edelmann erhielt das Recht, ein Bauer zu wer-
den und bürgerliche Gewerbe zu treiben — ein Recht, das zugleich als
Erſatz galt für die bisherige Bevorzugung des Adels in der Armee. Jede Art
von Grundbeſitz und Geſchäftsbetrieb war fortan jedem Preußen zugänglich.
Aber Stein war nicht gewillt, die alten volksfreundlichen Grundſätze
der Monarchie preiszugeben und unter dem Vorwande des freien Wett-
bewerbs die Vernichtung des kleinen Grundbeſitzes zu erlauben; ein freier
kräftiger Bauernſtand erſchien ihm als die feſteſte Stütze des Staates,
als der Kern der Wehrkraft. Darum wurde den Rittergutsbeſitzern das
Auskaufen der Bauergüter nur unter Beſchränkungen und mit Zuſtim-
mung der Staatsbehörden geſtattet. Und während Schoen, getreu den
Dogmen der engliſchen Freihandelsſchule, den Untergang der alten land-
ſäſſigen Geſchlechter als eine unabänderliche wirthſchaftliche Nothwendig-
keit hinnehmen wollte, griff Stein den verſchuldeten Großgrundbeſitzern
mit einem General-Indult unter die Arme. So gelang es, dem Landadel
über die nächſte ſchwere Zeit hinwegzuhelfen, die Mehrzahl der Rittergüter
ihren alten Beſitzern zu erhalten. Ebenſo maßvoll bei aller Kühnheit
war auch das neue Edict, das den Einſaſſen der Domänen in Oſt- und
Weſtpreußen, etwa 47,000 bäuerlichen Familien, das freie Eigenthum ver-
lieh: ſie ſollten befugt ſein, drei Viertel der auf ihren Gütern haftenden
Dienſte und Abgaben binnen vierundzwanzig Jahren durch Geldzahlun-
gen abzulöſen. Ein Viertel blieb als unablösliche Contribution fortbe-
ſtehen; Stein verwarf die vollſtändige Beſeitigung aller dinglichen Laſten
der Bauerngüter als eine allzu radikale Störung der gewohnten Beſitz-
verhältniſſe. Daran ſchloß ſich die Aufhebung des Mühlenzwanges, der
Zünfte und Verkaufsmonopolien für Bäcker, Schlächter und Höker. Ver-
wandlung aller Dienſte und Naturalabgaben in Geldzahlungen, Beſeitigung
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/296>, abgerufen am 16.02.2025.
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