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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Auflösung des Reichs.
reichsoberhauptliche Amt und Würde" für erloschen, sein Kaiserthum Oester-
reich für ledig aller Reichspflichten. Die Verbindung zwischen Deutsch-
land und den kaiserlichen Erblanden war aber seit Langem so locker, daß
die förmliche Trennung in den inneren Zuständen Oesterreichs gar keine
Spuren zurückließ. Durch einen Staatsstreich des letzten Habsburger-
kaisers ging also jene Krone zu Grunde, die seit tausend Jahren mit den
stolzesten und den schmachvollsten Erinnerungen des deutschen Volkes ver-
wachsen war; der Heldenruhm der Ottonen haftete an ihr, aber auch der
Fluch des dreißigjährigen Krieges und die lächerliche Schande von Roßbach.
Den ganzen Umkreis irdischer Schicksale hatte sie durchmessen, aus einer
Zierde Deutschlands war sie zu einem widrigen Zerrbilde geworden, und
als sie endlich zusammenbrach, da schien es als ob ein Gespenst versänke.
Die Nation blieb stumm und kalt; erst als sie die Schmach der kaiser-
losen Zeit von Grund aus gekostet hatte, ist der Traum von Kaiser und
Reich wieder lebendig geworden in deutschen Herzen.

Im Lager des Bonapartismus lärmte die freche Schadenfreude. Die
Mainzer Zeitung schrieb: "Es ist kein Deutschland mehr. Was man für
Anstrengungen einer gegen ihre Auflösung kämpfenden Nation zu halten
versucht werden könnte, sind nur Klagen weniger Menschen an dem Grabe
eines Volkes, das sie überlebt haben. Deutschland ist nicht heute erst
untergegangen. Was der Geschichte der Völker Inhalt und Leben giebt,
ist der Geist einiger größeren hervorragenden Menschen" -- worauf dann
die übliche Kniebeugung vor dem Helden des Jahrhunderts folgte. Im
Oberlande und am Rhein war die Meinung weit verbreitet, daß nur
Englands Gold und Oesterreichs Uebermuth den jüngsten Krieg und den
Untergang des Kaiserthums verschuldet habe; im Norden aber kannte die
Masse das Reich kaum dem Namen nach, den Ernst der Zeit hatte sie
noch gar nicht empfunden. Gedeckt durch die große Armee nahmen die
Fürsten des Rheinbundes ihre Beute in Besitz, und wieder wie vor drei
Jahren ließ das Volk leise klagend Alles über sich ergehen. Alle rhein-
bündischen Höfe meinten sich kraft ihrer neuen Souveränität berechtigt,
die letzten Trümmer der alten ständischen Rechte zu zerstören; das napo-
leonische Machtwort c'est commande par les circonstances rechtfertigte
jede Gewaltthat. Friedrich von Württemberg ließ gleich nach der Er-
werbung der Königskrone dem Landtagsausschusse die Schlüssel zu der
ständischen Kasse abfordern und beseitigte die alte von den tapferen Schwa-
ben in dreihundertjährigen Kämpfen vertheidigte Landesverfassung, die
einzige lebenskräftige im deutschen Süden, als eine "nicht mehr in die
itzige Zeit passende Einrichtung"; seine Minister jubelten, jetzt endlich sei
der Schlange des ständischen Trotzes der Kopf zertreten. Auch die Krone
Dänemark benutzte die Auflösung des Reichs um Holstein ihrem Gesammt-
staate einzuverleiben; König Gustav nahm seinen Pommern ihr altes
Landesrecht und führte die schwedische Verfassung ein.

Auflöſung des Reichs.
reichsoberhauptliche Amt und Würde“ für erloſchen, ſein Kaiſerthum Oeſter-
reich für ledig aller Reichspflichten. Die Verbindung zwiſchen Deutſch-
land und den kaiſerlichen Erblanden war aber ſeit Langem ſo locker, daß
die förmliche Trennung in den inneren Zuſtänden Oeſterreichs gar keine
Spuren zurückließ. Durch einen Staatsſtreich des letzten Habsburger-
kaiſers ging alſo jene Krone zu Grunde, die ſeit tauſend Jahren mit den
ſtolzeſten und den ſchmachvollſten Erinnerungen des deutſchen Volkes ver-
wachſen war; der Heldenruhm der Ottonen haftete an ihr, aber auch der
Fluch des dreißigjährigen Krieges und die lächerliche Schande von Roßbach.
Den ganzen Umkreis irdiſcher Schickſale hatte ſie durchmeſſen, aus einer
Zierde Deutſchlands war ſie zu einem widrigen Zerrbilde geworden, und
als ſie endlich zuſammenbrach, da ſchien es als ob ein Geſpenſt verſänke.
Die Nation blieb ſtumm und kalt; erſt als ſie die Schmach der kaiſer-
loſen Zeit von Grund aus gekoſtet hatte, iſt der Traum von Kaiſer und
Reich wieder lebendig geworden in deutſchen Herzen.

Im Lager des Bonapartismus lärmte die freche Schadenfreude. Die
Mainzer Zeitung ſchrieb: „Es iſt kein Deutſchland mehr. Was man für
Anſtrengungen einer gegen ihre Auflöſung kämpfenden Nation zu halten
verſucht werden könnte, ſind nur Klagen weniger Menſchen an dem Grabe
eines Volkes, das ſie überlebt haben. Deutſchland iſt nicht heute erſt
untergegangen. Was der Geſchichte der Völker Inhalt und Leben giebt,
iſt der Geiſt einiger größeren hervorragenden Menſchen“ — worauf dann
die übliche Kniebeugung vor dem Helden des Jahrhunderts folgte. Im
Oberlande und am Rhein war die Meinung weit verbreitet, daß nur
Englands Gold und Oeſterreichs Uebermuth den jüngſten Krieg und den
Untergang des Kaiſerthums verſchuldet habe; im Norden aber kannte die
Maſſe das Reich kaum dem Namen nach, den Ernſt der Zeit hatte ſie
noch gar nicht empfunden. Gedeckt durch die große Armee nahmen die
Fürſten des Rheinbundes ihre Beute in Beſitz, und wieder wie vor drei
Jahren ließ das Volk leiſe klagend Alles über ſich ergehen. Alle rhein-
bündiſchen Höfe meinten ſich kraft ihrer neuen Souveränität berechtigt,
die letzten Trümmer der alten ſtändiſchen Rechte zu zerſtören; das napo-
leoniſche Machtwort c’est commandé par les circonstances rechtfertigte
jede Gewaltthat. Friedrich von Württemberg ließ gleich nach der Er-
werbung der Königskrone dem Landtagsausſchuſſe die Schlüſſel zu der
ſtändiſchen Kaſſe abfordern und beſeitigte die alte von den tapferen Schwa-
ben in dreihundertjährigen Kämpfen vertheidigte Landesverfaſſung, die
einzige lebenskräftige im deutſchen Süden, als eine „nicht mehr in die
itzige Zeit paſſende Einrichtung“; ſeine Miniſter jubelten, jetzt endlich ſei
der Schlange des ſtändiſchen Trotzes der Kopf zertreten. Auch die Krone
Dänemark benutzte die Auflöſung des Reichs um Holſtein ihrem Geſammt-
ſtaate einzuverleiben; König Guſtav nahm ſeinen Pommern ihr altes
Landesrecht und führte die ſchwediſche Verfaſſung ein.

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[235/0251] Auflöſung des Reichs. reichsoberhauptliche Amt und Würde“ für erloſchen, ſein Kaiſerthum Oeſter- reich für ledig aller Reichspflichten. Die Verbindung zwiſchen Deutſch- land und den kaiſerlichen Erblanden war aber ſeit Langem ſo locker, daß die förmliche Trennung in den inneren Zuſtänden Oeſterreichs gar keine Spuren zurückließ. Durch einen Staatsſtreich des letzten Habsburger- kaiſers ging alſo jene Krone zu Grunde, die ſeit tauſend Jahren mit den ſtolzeſten und den ſchmachvollſten Erinnerungen des deutſchen Volkes ver- wachſen war; der Heldenruhm der Ottonen haftete an ihr, aber auch der Fluch des dreißigjährigen Krieges und die lächerliche Schande von Roßbach. Den ganzen Umkreis irdiſcher Schickſale hatte ſie durchmeſſen, aus einer Zierde Deutſchlands war ſie zu einem widrigen Zerrbilde geworden, und als ſie endlich zuſammenbrach, da ſchien es als ob ein Geſpenſt verſänke. Die Nation blieb ſtumm und kalt; erſt als ſie die Schmach der kaiſer- loſen Zeit von Grund aus gekoſtet hatte, iſt der Traum von Kaiſer und Reich wieder lebendig geworden in deutſchen Herzen. Im Lager des Bonapartismus lärmte die freche Schadenfreude. Die Mainzer Zeitung ſchrieb: „Es iſt kein Deutſchland mehr. Was man für Anſtrengungen einer gegen ihre Auflöſung kämpfenden Nation zu halten verſucht werden könnte, ſind nur Klagen weniger Menſchen an dem Grabe eines Volkes, das ſie überlebt haben. Deutſchland iſt nicht heute erſt untergegangen. Was der Geſchichte der Völker Inhalt und Leben giebt, iſt der Geiſt einiger größeren hervorragenden Menſchen“ — worauf dann die übliche Kniebeugung vor dem Helden des Jahrhunderts folgte. Im Oberlande und am Rhein war die Meinung weit verbreitet, daß nur Englands Gold und Oeſterreichs Uebermuth den jüngſten Krieg und den Untergang des Kaiſerthums verſchuldet habe; im Norden aber kannte die Maſſe das Reich kaum dem Namen nach, den Ernſt der Zeit hatte ſie noch gar nicht empfunden. Gedeckt durch die große Armee nahmen die Fürſten des Rheinbundes ihre Beute in Beſitz, und wieder wie vor drei Jahren ließ das Volk leiſe klagend Alles über ſich ergehen. Alle rhein- bündiſchen Höfe meinten ſich kraft ihrer neuen Souveränität berechtigt, die letzten Trümmer der alten ſtändiſchen Rechte zu zerſtören; das napo- leoniſche Machtwort c’est commandé par les circonstances rechtfertigte jede Gewaltthat. Friedrich von Württemberg ließ gleich nach der Er- werbung der Königskrone dem Landtagsausſchuſſe die Schlüſſel zu der ſtändiſchen Kaſſe abfordern und beſeitigte die alte von den tapferen Schwa- ben in dreihundertjährigen Kämpfen vertheidigte Landesverfaſſung, die einzige lebenskräftige im deutſchen Süden, als eine „nicht mehr in die itzige Zeit paſſende Einrichtung“; ſeine Miniſter jubelten, jetzt endlich ſei der Schlange des ſtändiſchen Trotzes der Kopf zertreten. Auch die Krone Dänemark benutzte die Auflöſung des Reichs um Holſtein ihrem Geſammt- ſtaate einzuverleiben; König Guſtav nahm ſeinen Pommern ihr altes Landesrecht und führte die ſchwediſche Verfaſſung ein.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/251>, abgerufen am 23.11.2024.