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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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pflegt sie ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln.
So mögen doch im Voraus einige Anmerkungen den Gegen-
satz als einen gegebenen darstellen. Alles vertraute, heim-
liche, ausschliessliche Zusammenleben (so finden wir) wird
als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die
Oeffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den
Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem
Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesell-
schaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor-
schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem
Sprachsinne zuwider. Von der häuslichen Gesellschaft mögen
wohl die Juristen reden, weil sie nur den gesellschaftlichen
Begriff einer Verbindung kennen; aber die häusliche Ge-
meinschaft
mit ihren unendlichen Wirkungen auf die
menschliche Seele wird von Jedem empfunden, der ihrer
theilhaftig geworden ist. Ebenso wissen wohl die Getrauten,
dass sie in die Ehe als vollkommene Gemeinschaft des
Lebens (koinonia pantos tou biou, communio totius vitae)
sich begeben; eine Gesellschaft des Lebens widerspricht
sich selber. Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft
kann Niemand dem Anderen leisten. In die religiöse
Gemeinschaft wird man aufgenommen; Religions-Gesell-
schaften
existiren nur, gleich anderen Vereinigungen zu
beliebigem Zwecke, für den Staat und die Theorie, welche
ausserhalb ihrer stehen. Gemeinschaft der Sprache, der
Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der
Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handels-
gesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjecten
eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag,
so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden.
Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung
Actien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemein-
schaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die
Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht
Güter-Gesellschaft nennen. So ergeben sich manche Diver-
genzen. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer
die gesammte Menschheit umfassenden Gemeinschaft
reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche
Gesellschaft wird als ein blosses Nebeneinander von einander

pflegt sie ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln.
So mögen doch im Voraus einige Anmerkungen den Gegen-
satz als einen gegebenen darstellen. Alles vertraute, heim-
liche, ausschliessliche Zusammenleben (so finden wir) wird
als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die
Oeffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den
Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem
Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesell-
schaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor-
schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem
Sprachsinne zuwider. Von der häuslichen Gesellschaft mögen
wohl die Juristen reden, weil sie nur den gesellschaftlichen
Begriff einer Verbindung kennen; aber die häusliche Ge-
meinschaft
mit ihren unendlichen Wirkungen auf die
menschliche Seele wird von Jedem empfunden, der ihrer
theilhaftig geworden ist. Ebenso wissen wohl die Getrauten,
dass sie in die Ehe als vollkommene Gemeinschaft des
Lebens (κοινωνία παντὸς τοῦ βίου, communio totius vitae)
sich begeben; eine Gesellschaft des Lebens widerspricht
sich selber. Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft
kann Niemand dem Anderen leisten. In die religiöse
Gemeinschaft wird man aufgenommen; Religions-Gesell-
schaften
existiren nur, gleich anderen Vereinigungen zu
beliebigem Zwecke, für den Staat und die Theorie, welche
ausserhalb ihrer stehen. Gemeinschaft der Sprache, der
Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der
Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handels-
gesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjecten
eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag,
so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden.
Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung
Actien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemein-
schaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die
Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht
Güter-Gesellschaft nennen. So ergeben sich manche Diver-
genzen. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer
die gesammte Menschheit umfassenden Gemeinschaft
reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche
Gesellschaft wird als ein blosses Nebeneinander von einander

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[4/0040] pflegt sie ohne Unterscheidung nach Belieben zu verwechseln. So mögen doch im Voraus einige Anmerkungen den Gegen- satz als einen gegebenen darstellen. Alles vertraute, heim- liche, ausschliessliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Oeffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesell- schaft wie in die Fremde. Der Jüngling wird gewarnt vor- schlechter Gesellschaft; aber schlechte Gemeinschaft ist dem Sprachsinne zuwider. Von der häuslichen Gesellschaft mögen wohl die Juristen reden, weil sie nur den gesellschaftlichen Begriff einer Verbindung kennen; aber die häusliche Ge- meinschaft mit ihren unendlichen Wirkungen auf die menschliche Seele wird von Jedem empfunden, der ihrer theilhaftig geworden ist. Ebenso wissen wohl die Getrauten, dass sie in die Ehe als vollkommene Gemeinschaft des Lebens (κοινωνία παντὸς τοῦ βίου, communio totius vitae) sich begeben; eine Gesellschaft des Lebens widerspricht sich selber. Man leistet sich Gesellschaft; Gemeinschaft kann Niemand dem Anderen leisten. In die religiöse Gemeinschaft wird man aufgenommen; Religions-Gesell- schaften existiren nur, gleich anderen Vereinigungen zu beliebigem Zwecke, für den Staat und die Theorie, welche ausserhalb ihrer stehen. Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens; aber Gesellschaft des Erwerbes, der Reise, der Wissenschaften. So sind insonderheit die Handels- gesellschaften bedeutend; wenn auch unter den Subjecten eine Vertraulichkeit und Gemeinschaft vorhanden sein mag, so kann man doch von Handels-Gemeinschaft nicht reden. Vollends abscheulich würde es sein, die Zusammensetzung Actien-Gemeinschaft zu bilden. Während es doch Gemein- schaft des Besitzes gibt: an Acker, Wald, Weide. Die Güter-Gemeinschaft zwischen Ehegatten wird man nicht Güter-Gesellschaft nennen. So ergeben sich manche Diver- genzen. Im allgemeinsten Sinne wird man wohl von einer die gesammte Menschheit umfassenden Gemeinschaft reden, wie es die Kirche sein will. Aber die menschliche Gesellschaft wird als ein blosses Nebeneinander von einander

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/40>, abgerufen am 24.11.2024.