Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

losmacht, und, die Früchte theils zeitigend, theils geniessend,
aus sich selber zu existiren scheint; zugleich mehr und mehr
das Ganze beherrschend, die darin vorhandenen Kräfte
theils an sich zu ziehen, theils (und auch eben dadurch)
zu zerstören tendirt.

§ 9.

Die ganze Bewegung kann aber auch, nach ihrer
primären und durch alle folgenden hindurchgehenden Er-
scheinung, begriffen werden als Tendenz von ursprüng-
lichem (einfachem, familienhaftem) Communismus und
daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städ-
tischem) Individualismus zum unabhängigen (gross-
städtisch-universellem) Individualismus und dadurch
gesetztem (staatlichem und internationalem) Socialismus.
Dieser ist schon mit dem Begriffe der Gesellschaft vor-
handen, wenn auch zunächst nur in der Form des that-
sächlichen Zusammenhanges aller kapitalistischen Potenzen,
und des Staates, der, wie in ihrem Mandate, die Ordnung
des Verkehres erhält und befördert; allmählich aber über-
gehend in die Versuche, durch den Mechanismus des Staates
den Verkehr und die Arbeit selber einheitlich zu lenken,
deren Durchführung jedoch die gesammte Gesellschaft und
ihre Civilisation aufheben würde. Dieselbe Tendenz be-
deutet aber nothwendiger Weise eine zugleich geschehende
Auflösung aller jener Bande, in welche der einzelne Mensch
sich mit seinem Wesenwillen und ohne seine Willkür ver-
setzt findet, und wodurch die Freiheit seiner Person in
ihren Bewegungen, seines Eigentums in seiner Veräusser-
lichkeit und seiner Meinungen in ihrem Wechsel und
ihrer wissenschaftlichen Anpassung gebunden und bedingt
ist, so dass sie von der sich selbst bestimmenden Willkür
als Hemmungen empfunden werden müssen; von der Gesell-
schaft, insofern als Handel und Wandel unscrupulöse, un-
religiöse, leichtem Leben geneigte Menschen fordert; und
das Eigenthum oder doch die Rechte darauf so sehr als
möglich beweglich und theilbar zu machen drängt; vom
Staate, insofern er diese Entwicklung beschleunigt und

19**

losmacht, und, die Früchte theils zeitigend, theils geniessend,
aus sich selber zu existiren scheint; zugleich mehr und mehr
das Ganze beherrschend, die darin vorhandenen Kräfte
theils an sich zu ziehen, theils (und auch eben dadurch)
zu zerstören tendirt.

§ 9.

Die ganze Bewegung kann aber auch, nach ihrer
primären und durch alle folgenden hindurchgehenden Er-
scheinung, begriffen werden als Tendenz von ursprüng-
lichem (einfachem, familienhaftem) Communismus und
daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städ-
tischem) Individualismus zum unabhängigen (gross-
städtisch-universellem) Individualismus und dadurch
gesetztem (staatlichem und internationalem) Socialismus.
Dieser ist schon mit dem Begriffe der Gesellschaft vor-
handen, wenn auch zunächst nur in der Form des that-
sächlichen Zusammenhanges aller kapitalistischen Potenzen,
und des Staates, der, wie in ihrem Mandate, die Ordnung
des Verkehres erhält und befördert; allmählich aber über-
gehend in die Versuche, durch den Mechanismus des Staates
den Verkehr und die Arbeit selber einheitlich zu lenken,
deren Durchführung jedoch die gesammte Gesellschaft und
ihre Civilisation aufheben würde. Dieselbe Tendenz be-
deutet aber nothwendiger Weise eine zugleich geschehende
Auflösung aller jener Bande, in welche der einzelne Mensch
sich mit seinem Wesenwillen und ohne seine Willkür ver-
setzt findet, und wodurch die Freiheit seiner Person in
ihren Bewegungen, seines Eigentums in seiner Veräusser-
lichkeit und seiner Meinungen in ihrem Wechsel und
ihrer wissenschaftlichen Anpassung gebunden und bedingt
ist, so dass sie von der sich selbst bestimmenden Willkür
als Hemmungen empfunden werden müssen; von der Gesell-
schaft, insofern als Handel und Wandel unscrupulöse, un-
religiöse, leichtem Leben geneigte Menschen fordert; und
das Eigenthum oder doch die Rechte darauf so sehr als
möglich beweglich und theilbar zu machen drängt; vom
Staate, insofern er diese Entwicklung beschleunigt und

19**
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0329" n="293"/>
losmacht, und, die Früchte theils zeitigend, theils geniessend,<lb/>
aus sich selber zu existiren scheint; zugleich mehr und mehr<lb/>
das Ganze beherrschend, die darin vorhandenen Kräfte<lb/>
theils an sich zu ziehen, theils (und auch eben dadurch)<lb/>
zu zerstören tendirt.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§ 9.</head><lb/>
          <p>Die ganze Bewegung kann aber auch, nach ihrer<lb/>
primären und durch alle folgenden hindurchgehenden Er-<lb/>
scheinung, begriffen werden als Tendenz von ursprüng-<lb/>
lichem (einfachem, familienhaftem) <hi rendition="#g">Communismus</hi> und<lb/>
daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städ-<lb/>
tischem) <hi rendition="#g">Individualismus</hi> zum <hi rendition="#g">unabhängigen</hi> (gross-<lb/>
städtisch-universellem) <hi rendition="#g">Individualismus</hi> und dadurch<lb/>
gesetztem (staatlichem und internationalem) <hi rendition="#g">Socialismus</hi>.<lb/>
Dieser ist schon mit dem Begriffe der Gesellschaft vor-<lb/>
handen, wenn auch zunächst nur in der Form des that-<lb/>
sächlichen Zusammenhanges aller kapitalistischen Potenzen,<lb/>
und des Staates, der, wie in ihrem Mandate, die Ordnung<lb/>
des Verkehres erhält und befördert; allmählich aber über-<lb/>
gehend in die Versuche, durch den Mechanismus des Staates<lb/>
den Verkehr und die Arbeit selber einheitlich zu lenken,<lb/>
deren Durchführung jedoch die gesammte Gesellschaft und<lb/>
ihre Civilisation aufheben würde. Dieselbe Tendenz be-<lb/>
deutet aber nothwendiger Weise eine zugleich geschehende<lb/>
Auflösung aller jener Bande, in welche der einzelne Mensch<lb/>
sich mit seinem Wesenwillen und ohne seine Willkür ver-<lb/>
setzt findet, und wodurch die Freiheit seiner Person in<lb/>
ihren Bewegungen, seines Eigentums in seiner Veräusser-<lb/>
lichkeit und seiner Meinungen in ihrem Wechsel und<lb/>
ihrer wissenschaftlichen Anpassung gebunden und bedingt<lb/>
ist, so dass sie von der sich selbst bestimmenden Willkür<lb/>
als Hemmungen empfunden werden müssen; von der Gesell-<lb/>
schaft, insofern als Handel und Wandel unscrupulöse, un-<lb/>
religiöse, leichtem Leben geneigte Menschen fordert; und<lb/>
das Eigenthum oder doch die Rechte darauf so sehr als<lb/>
möglich beweglich und theilbar zu machen drängt; vom<lb/>
Staate, insofern er diese Entwicklung beschleunigt und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">19**</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0329] losmacht, und, die Früchte theils zeitigend, theils geniessend, aus sich selber zu existiren scheint; zugleich mehr und mehr das Ganze beherrschend, die darin vorhandenen Kräfte theils an sich zu ziehen, theils (und auch eben dadurch) zu zerstören tendirt. § 9. Die ganze Bewegung kann aber auch, nach ihrer primären und durch alle folgenden hindurchgehenden Er- scheinung, begriffen werden als Tendenz von ursprüng- lichem (einfachem, familienhaftem) Communismus und daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städ- tischem) Individualismus zum unabhängigen (gross- städtisch-universellem) Individualismus und dadurch gesetztem (staatlichem und internationalem) Socialismus. Dieser ist schon mit dem Begriffe der Gesellschaft vor- handen, wenn auch zunächst nur in der Form des that- sächlichen Zusammenhanges aller kapitalistischen Potenzen, und des Staates, der, wie in ihrem Mandate, die Ordnung des Verkehres erhält und befördert; allmählich aber über- gehend in die Versuche, durch den Mechanismus des Staates den Verkehr und die Arbeit selber einheitlich zu lenken, deren Durchführung jedoch die gesammte Gesellschaft und ihre Civilisation aufheben würde. Dieselbe Tendenz be- deutet aber nothwendiger Weise eine zugleich geschehende Auflösung aller jener Bande, in welche der einzelne Mensch sich mit seinem Wesenwillen und ohne seine Willkür ver- setzt findet, und wodurch die Freiheit seiner Person in ihren Bewegungen, seines Eigentums in seiner Veräusser- lichkeit und seiner Meinungen in ihrem Wechsel und ihrer wissenschaftlichen Anpassung gebunden und bedingt ist, so dass sie von der sich selbst bestimmenden Willkür als Hemmungen empfunden werden müssen; von der Gesell- schaft, insofern als Handel und Wandel unscrupulöse, un- religiöse, leichtem Leben geneigte Menschen fordert; und das Eigenthum oder doch die Rechte darauf so sehr als möglich beweglich und theilbar zu machen drängt; vom Staate, insofern er diese Entwicklung beschleunigt und 19**

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/329
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/329>, abgerufen am 24.11.2024.