In der That ist hier das Vermögen das einzig wirksame und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaft- lichen Organismen Eigenthum als Mitgenuss des Gemein- besitzes und als besondere Rechtssphäre durchaus die Folge und das Ergebniss der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprüng- licher oder geschaffener (assimilirter); daher, so weit es möglich ist, nach dem Maasse derselben sich richtend. In der Grosstadt also, in der Hauptstadt und zumal in der Weltstadt, geräth das Familienwesen in Verfall. Je mehr und also je länger sie ihre Wirkungen ausüben kann, desto mehr müssen die Reste desselben als zufällige erscheinen. Denn Wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte, Interessen, Vergnügungen nach aussen und auseinander gezogen. Die Grossen und Mächtigen haben immer, indem sie als Willkürlich-Freie sich empfanden, starke Lust gehabt, die Schranken der Sitte zu durchbrechen. Sie wissen, dass sie thun können, was sie wollen. Sie haben die Macht, Veränderungen zu ihren Gunsten zu bewirken, und nur dies ist die positive Bewährung willkürlicher Macht. Der Mechanismus des Geldes scheint, unter gewöhnlichen Um- ständen, wenn er unter hinlänglich hohem Drucke arbeitet, alle Widerstände zu überwinden, alles Erwünschte zu be- wirken, Gefahren aufzuheben, Uebel zu heilen. Dies gilt jedoch nicht durchaus. Wenn auch alle gemeinschaftlichen Mächte hinweggedacht werden, so erheben sich doch die gesellschaftlichen Mächte über den freien Personen. Con- vention nimmt für die eigentliche Gesellschaft, in weitem Umfange, die Stellung ein, welche Sitte und Religion leer gelassen haben; sie verbietet Vieles, als dem gemeinsamen Interesse schädlich, was diese als an und für sich böse verdammt hatten. Ebenso wirkt, in engeren Grenzen, der Staatswille durch Gerichte und Polizei. Dieser gibt seine Gesetze für Alle als Gleiche, nur Kinder und Wahnsinnige sind ihm nicht verantwortlich. Convention will wenigstens den Schein der Sittlichkeit bewahren; sie steht noch mit dem moralischen und religiösen Schönheitssinn in Verbindung, welcher aber willkürlich und formal geworden ist. Den Staat geht die Sittlichkeit nichts an. Er hat nur die feind-
In der That ist hier das Vermögen das einzig wirksame und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaft- lichen Organismen Eigenthum als Mitgenuss des Gemein- besitzes und als besondere Rechtssphäre durchaus die Folge und das Ergebniss der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprüng- licher oder geschaffener (assimilirter); daher, so weit es möglich ist, nach dem Maasse derselben sich richtend. In der Grosstadt also, in der Hauptstadt und zumal in der Weltstadt, geräth das Familienwesen in Verfall. Je mehr und also je länger sie ihre Wirkungen ausüben kann, desto mehr müssen die Reste desselben als zufällige erscheinen. Denn Wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte, Interessen, Vergnügungen nach aussen und auseinander gezogen. Die Grossen und Mächtigen haben immer, indem sie als Willkürlich-Freie sich empfanden, starke Lust gehabt, die Schranken der Sitte zu durchbrechen. Sie wissen, dass sie thun können, was sie wollen. Sie haben die Macht, Veränderungen zu ihren Gunsten zu bewirken, und nur dies ist die positive Bewährung willkürlicher Macht. Der Mechanismus des Geldes scheint, unter gewöhnlichen Um- ständen, wenn er unter hinlänglich hohem Drucke arbeitet, alle Widerstände zu überwinden, alles Erwünschte zu be- wirken, Gefahren aufzuheben, Uebel zu heilen. Dies gilt jedoch nicht durchaus. Wenn auch alle gemeinschaftlichen Mächte hinweggedacht werden, so erheben sich doch die gesellschaftlichen Mächte über den freien Personen. Con- vention nimmt für die eigentliche Gesellschaft, in weitem Umfange, die Stellung ein, welche Sitte und Religion leer gelassen haben; sie verbietet Vieles, als dem gemeinsamen Interesse schädlich, was diese als an und für sich böse verdammt hatten. Ebenso wirkt, in engeren Grenzen, der Staatswille durch Gerichte und Polizei. Dieser gibt seine Gesetze für Alle als Gleiche, nur Kinder und Wahnsinnige sind ihm nicht verantwortlich. Convention will wenigstens den Schein der Sittlichkeit bewahren; sie steht noch mit dem moralischen und religiösen Schönheitssinn in Verbindung, welcher aber willkürlich und formal geworden ist. Den Staat geht die Sittlichkeit nichts an. Er hat nur die feind-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0322"n="286"/>
In der That ist hier das Vermögen das einzig wirksame<lb/>
und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaft-<lb/>
lichen Organismen Eigenthum als Mitgenuss des Gemein-<lb/>
besitzes und als besondere Rechtssphäre durchaus die Folge<lb/>
und das Ergebniss der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprüng-<lb/>
licher oder geschaffener (assimilirter); daher, so weit es<lb/>
möglich ist, nach dem Maasse derselben sich richtend. In<lb/>
der Grosstadt also, in der Hauptstadt und zumal in der<lb/>
Weltstadt, geräth das Familienwesen in Verfall. Je mehr<lb/>
und also je länger sie ihre Wirkungen ausüben kann, desto<lb/>
mehr müssen die Reste desselben als zufällige erscheinen.<lb/>
Denn Wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in<lb/>
einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte,<lb/>
Interessen, Vergnügungen nach aussen und auseinander<lb/>
gezogen. Die Grossen und Mächtigen haben immer, indem<lb/>
sie als Willkürlich-Freie sich empfanden, starke Lust gehabt,<lb/>
die Schranken der Sitte zu durchbrechen. Sie wissen, dass<lb/>
sie thun können, was sie wollen. Sie haben die Macht,<lb/>
Veränderungen zu ihren Gunsten zu bewirken, und nur<lb/>
dies ist die positive Bewährung willkürlicher Macht. Der<lb/>
Mechanismus des Geldes scheint, unter gewöhnlichen Um-<lb/>
ständen, wenn er unter hinlänglich hohem Drucke arbeitet,<lb/>
alle Widerstände zu überwinden, alles Erwünschte zu be-<lb/>
wirken, Gefahren aufzuheben, Uebel zu heilen. Dies gilt<lb/>
jedoch nicht durchaus. Wenn auch alle gemeinschaftlichen<lb/>
Mächte hinweggedacht werden, so erheben sich doch die<lb/>
gesellschaftlichen Mächte über den freien Personen. Con-<lb/>
vention nimmt für die eigentliche Gesellschaft, in weitem<lb/>
Umfange, die Stellung ein, welche Sitte und Religion leer<lb/>
gelassen haben; sie verbietet Vieles, als dem gemeinsamen<lb/>
Interesse schädlich, was diese als an und für sich böse<lb/>
verdammt hatten. Ebenso wirkt, in engeren Grenzen, der<lb/>
Staatswille durch Gerichte und Polizei. Dieser gibt seine<lb/>
Gesetze für Alle als Gleiche, nur Kinder und Wahnsinnige<lb/>
sind ihm nicht verantwortlich. Convention will wenigstens<lb/>
den <hirendition="#g">Schein</hi> der Sittlichkeit bewahren; sie steht noch mit<lb/>
dem moralischen und religiösen Schönheitssinn in Verbindung,<lb/>
welcher aber willkürlich und formal geworden ist. Den<lb/>
Staat geht die Sittlichkeit nichts an. Er hat nur die feind-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[286/0322]
In der That ist hier das Vermögen das einzig wirksame
und ursprüngliche Merkmal, während in allen gemeinschaft-
lichen Organismen Eigenthum als Mitgenuss des Gemein-
besitzes und als besondere Rechtssphäre durchaus die Folge
und das Ergebniss der Freiheit oder Ingenuität ist, ursprüng-
licher oder geschaffener (assimilirter); daher, so weit es
möglich ist, nach dem Maasse derselben sich richtend. In
der Grosstadt also, in der Hauptstadt und zumal in der
Weltstadt, geräth das Familienwesen in Verfall. Je mehr
und also je länger sie ihre Wirkungen ausüben kann, desto
mehr müssen die Reste desselben als zufällige erscheinen.
Denn Wenige gehen hier mit der Kraft ihres Willens in
einem so engen Kreise auf. Alle werden durch Geschäfte,
Interessen, Vergnügungen nach aussen und auseinander
gezogen. Die Grossen und Mächtigen haben immer, indem
sie als Willkürlich-Freie sich empfanden, starke Lust gehabt,
die Schranken der Sitte zu durchbrechen. Sie wissen, dass
sie thun können, was sie wollen. Sie haben die Macht,
Veränderungen zu ihren Gunsten zu bewirken, und nur
dies ist die positive Bewährung willkürlicher Macht. Der
Mechanismus des Geldes scheint, unter gewöhnlichen Um-
ständen, wenn er unter hinlänglich hohem Drucke arbeitet,
alle Widerstände zu überwinden, alles Erwünschte zu be-
wirken, Gefahren aufzuheben, Uebel zu heilen. Dies gilt
jedoch nicht durchaus. Wenn auch alle gemeinschaftlichen
Mächte hinweggedacht werden, so erheben sich doch die
gesellschaftlichen Mächte über den freien Personen. Con-
vention nimmt für die eigentliche Gesellschaft, in weitem
Umfange, die Stellung ein, welche Sitte und Religion leer
gelassen haben; sie verbietet Vieles, als dem gemeinsamen
Interesse schädlich, was diese als an und für sich böse
verdammt hatten. Ebenso wirkt, in engeren Grenzen, der
Staatswille durch Gerichte und Polizei. Dieser gibt seine
Gesetze für Alle als Gleiche, nur Kinder und Wahnsinnige
sind ihm nicht verantwortlich. Convention will wenigstens
den Schein der Sittlichkeit bewahren; sie steht noch mit
dem moralischen und religiösen Schönheitssinn in Verbindung,
welcher aber willkürlich und formal geworden ist. Den
Staat geht die Sittlichkeit nichts an. Er hat nur die feind-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/322>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.