Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Dorfgemeinde und die Stadt können selber noch als
grosse Familien begriffen werden, die einzelnen Geschlechter
und Häuser dann als Elementarorganismen ihres Leibes;
Zünfte, Gilden, Aemter als die Gewebe und Organe der
Stadt. Hier bleibt immer für den vollkommenen Antheil
und Genuss an gemeinem Eigenthum und Gerechtsamen,
ursprüngliche Blutsverwandtschaft und ererbtes Loos wesent-
liche oder doch wichtigste Bedingung; Fremde mögen als
dienende Glieder oder als Gäste für Zeit oder für Dauer
aufgenommen und beschützt werden, und also als Objecte,
aber nicht leicht als Träger und Factoren, dieser Gemein-
schaft angehören; wie auch Kinder zunächst nur als un-
mündige, abhängige Mitglieder in der Familie leben, eben
darum aber in der römischen Sprache "freie" genannt, weil
sie als die möglichen und unter normalen Umständen ge-
wissen zukünftigen Herren vorausgedacht werden, als "ihre
eigenen Erben". Das sind weder Gäste noch Knechte, weder
im Hause noch in der Gemeinde. Aber Gäste können als will-
kommene, geehrte, der Stellung von Kindern nahekommen,
wie sie als Adoptivkinder oder mit dem Bürgerrecht Beschenkte
darin übergehen und Erbrechtes geniessen; und Knechte
können Gästen ähnlich geschätzt und behandelt werden, ja
auch durch den Werth ihrer Functionen wie Angehörige
mitschalten und walten. So kommt es denn auch vor, dass
sie als natürliche oder eingesetzte Erben hervortreten.
Die Wirklichkeit zeigt hier zahlreiche Abstufungen, untere
und obere, welche den Formeln juristischer Begriffe zu-
wider sind. Denn auf der anderen Seite können alle diese
Verhältnisse durch besondere Umstände vielmehr in blos
interessirte und lösbare Gegenseitigkeiten von einander unab-
hängig bleibender Contrahenten sich verwandeln. In der Gross-
stadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle
Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich
mehr und mehr durch ihre Entwicklung. Der Unterschied
von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder
ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein
Vermögen und durch seine Contracte; ist also Knecht nur
insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem Anderen
abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt.

Die Dorfgemeinde und die Stadt können selber noch als
grosse Familien begriffen werden, die einzelnen Geschlechter
und Häuser dann als Elementarorganismen ihres Leibes;
Zünfte, Gilden, Aemter als die Gewebe und Organe der
Stadt. Hier bleibt immer für den vollkommenen Antheil
und Genuss an gemeinem Eigenthum und Gerechtsamen,
ursprüngliche Blutsverwandtschaft und ererbtes Loos wesent-
liche oder doch wichtigste Bedingung; Fremde mögen als
dienende Glieder oder als Gäste für Zeit oder für Dauer
aufgenommen und beschützt werden, und also als Objecte,
aber nicht leicht als Träger und Factoren, dieser Gemein-
schaft angehören; wie auch Kinder zunächst nur als un-
mündige, abhängige Mitglieder in der Familie leben, eben
darum aber in der römischen Sprache »freie« genannt, weil
sie als die möglichen und unter normalen Umständen ge-
wissen zukünftigen Herren vorausgedacht werden, als »ihre
eigenen Erben«. Das sind weder Gäste noch Knechte, weder
im Hause noch in der Gemeinde. Aber Gäste können als will-
kommene, geehrte, der Stellung von Kindern nahekommen,
wie sie als Adoptivkinder oder mit dem Bürgerrecht Beschenkte
darin übergehen und Erbrechtes geniessen; und Knechte
können Gästen ähnlich geschätzt und behandelt werden, ja
auch durch den Werth ihrer Functionen wie Angehörige
mitschalten und walten. So kommt es denn auch vor, dass
sie als natürliche oder eingesetzte Erben hervortreten.
Die Wirklichkeit zeigt hier zahlreiche Abstufungen, untere
und obere, welche den Formeln juristischer Begriffe zu-
wider sind. Denn auf der anderen Seite können alle diese
Verhältnisse durch besondere Umstände vielmehr in blos
interessirte und lösbare Gegenseitigkeiten von einander unab-
hängig bleibender Contrahenten sich verwandeln. In der Gross-
stadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle
Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich
mehr und mehr durch ihre Entwicklung. Der Unterschied
von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder
ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein
Vermögen und durch seine Contracte; ist also Knecht nur
insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem Anderen
abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0321" n="285"/>
Die Dorfgemeinde und die Stadt können selber noch als<lb/>
grosse Familien begriffen werden, die einzelnen Geschlechter<lb/>
und Häuser dann als Elementarorganismen ihres Leibes;<lb/>
Zünfte, Gilden, Aemter als die Gewebe und Organe der<lb/>
Stadt. Hier bleibt immer für den vollkommenen Antheil<lb/>
und Genuss an gemeinem Eigenthum und Gerechtsamen,<lb/>
ursprüngliche Blutsverwandtschaft und ererbtes Loos wesent-<lb/>
liche oder doch wichtigste Bedingung; Fremde mögen als<lb/>
dienende Glieder oder als Gäste für Zeit oder für Dauer<lb/>
aufgenommen und beschützt werden, und also als Objecte,<lb/>
aber nicht leicht als Träger und Factoren, dieser Gemein-<lb/>
schaft angehören; wie auch Kinder zunächst nur als un-<lb/>
mündige, abhängige Mitglieder in der Familie leben, eben<lb/>
darum aber in der römischen Sprache »freie« genannt, weil<lb/>
sie als die möglichen und unter normalen Umständen ge-<lb/>
wissen zukünftigen Herren vorausgedacht werden, als »ihre<lb/>
eigenen Erben«. Das sind weder Gäste noch Knechte, weder<lb/>
im Hause noch in der Gemeinde. Aber Gäste können als will-<lb/>
kommene, geehrte, der Stellung von Kindern nahekommen,<lb/>
wie sie als Adoptivkinder oder mit dem Bürgerrecht Beschenkte<lb/>
darin übergehen und Erbrechtes geniessen; und Knechte<lb/>
können Gästen ähnlich geschätzt und behandelt werden, ja<lb/>
auch durch den Werth ihrer Functionen wie Angehörige<lb/>
mitschalten und walten. So kommt es denn auch vor, dass<lb/>
sie als natürliche oder eingesetzte <hi rendition="#g">Erben</hi> hervortreten.<lb/>
Die Wirklichkeit zeigt hier zahlreiche Abstufungen, untere<lb/>
und obere, welche den Formeln juristischer Begriffe zu-<lb/>
wider sind. Denn auf der anderen Seite können alle diese<lb/>
Verhältnisse durch besondere Umstände vielmehr in blos<lb/>
interessirte und lösbare Gegenseitigkeiten von einander unab-<lb/>
hängig bleibender Contrahenten sich verwandeln. In der Gross-<lb/>
stadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle<lb/>
Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich<lb/>
mehr und mehr durch ihre Entwicklung. Der Unterschied<lb/>
von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder<lb/>
ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein<lb/>
Vermögen und durch seine Contracte; ist also Knecht nur<lb/>
insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem Anderen<lb/>
abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0321] Die Dorfgemeinde und die Stadt können selber noch als grosse Familien begriffen werden, die einzelnen Geschlechter und Häuser dann als Elementarorganismen ihres Leibes; Zünfte, Gilden, Aemter als die Gewebe und Organe der Stadt. Hier bleibt immer für den vollkommenen Antheil und Genuss an gemeinem Eigenthum und Gerechtsamen, ursprüngliche Blutsverwandtschaft und ererbtes Loos wesent- liche oder doch wichtigste Bedingung; Fremde mögen als dienende Glieder oder als Gäste für Zeit oder für Dauer aufgenommen und beschützt werden, und also als Objecte, aber nicht leicht als Träger und Factoren, dieser Gemein- schaft angehören; wie auch Kinder zunächst nur als un- mündige, abhängige Mitglieder in der Familie leben, eben darum aber in der römischen Sprache »freie« genannt, weil sie als die möglichen und unter normalen Umständen ge- wissen zukünftigen Herren vorausgedacht werden, als »ihre eigenen Erben«. Das sind weder Gäste noch Knechte, weder im Hause noch in der Gemeinde. Aber Gäste können als will- kommene, geehrte, der Stellung von Kindern nahekommen, wie sie als Adoptivkinder oder mit dem Bürgerrecht Beschenkte darin übergehen und Erbrechtes geniessen; und Knechte können Gästen ähnlich geschätzt und behandelt werden, ja auch durch den Werth ihrer Functionen wie Angehörige mitschalten und walten. So kommt es denn auch vor, dass sie als natürliche oder eingesetzte Erben hervortreten. Die Wirklichkeit zeigt hier zahlreiche Abstufungen, untere und obere, welche den Formeln juristischer Begriffe zu- wider sind. Denn auf der anderen Seite können alle diese Verhältnisse durch besondere Umstände vielmehr in blos interessirte und lösbare Gegenseitigkeiten von einander unab- hängig bleibender Contrahenten sich verwandeln. In der Gross- stadt ist solche Verwandlung, wenigstens in Bezug auf alle Verhältnisse der Dienstbarkeit, natürlich, und vollzieht sich mehr und mehr durch ihre Entwicklung. Der Unterschied von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein Vermögen und durch seine Contracte; ist also Knecht nur insofern, als er bestimmte Dienstleistungen einem Anderen abgetreten hat, und Herr insofern, als er solche empfängt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/321
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/321>, abgerufen am 24.11.2024.