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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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liche Zwecke verfolgend, über wirkliche Mittel verfügend
gedacht wird, so muss auch -- sofern sie eine menschliche
sein soll -- ein wirklicher Mensch oder eine Vielheit sol-
cher an ihrer Statt denken, wollen und agiren, ihre
Zwecke verfolgen, über ihre Mittel verfügen. Ein Einzelner
oder eine Vielheit: denn die Vielen können gleich einem
Einzelnen zusammendenken, zusammen ihre Willkür "for-
muliren" -- nämlich 1) berathen, indem irgend Einer
sein Denken äussert, was er wünsche und für gut halte,
dass Alle wollen möchten, also ihrer Aller Gedanken in Be-
wegung setzend, anregend; sodann etwa Andere dasselbe
oder Aehnliches rathen oder aber dawider rathen; 2) be-
schliessen, indem Alle oder wenigstens so Viele als wollen
(indem die Uebrigen, sich indifferent verhaltend, durch
eigenen Willen sich selber und ihre Macht unwirksam
machen) etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen,
zu bejahen oder zu verneinen durch bestimmte Worte oder
Zeichen erklären, und also -- da jede Stimme oder Will-
kür als gleich stark, als gleich schwer mit jeder anderen
gedacht wird -- entweder ein Gleichgewicht entsteht: dann
ist kein Beschluss, keine Entscheidung vorhanden, oder aber
ein Mehr, ein Uebergewicht auf der einen oder der anderen,
der bejahenden oder der verneinenden Seite: dies bedeutet
jedesmal einen positiven Beschluss, möge derselbe die An-
nahme oder Ablehnung eines Gerathenen, Vorgeschlagenen
zum Inhalte haben. Der einzelne Mensch mus gedacht wer-
den als immer des Beschliessens fähig: das will wenig-
stens sagen, es sei immer möglich, dass er, gefragt oder
berathen -- durch sich selber oder durch Andere -- be-
jahende oder verneinende Antwort, Entscheidung gebe; es
heisst aber auch: wenn er es will und versucht ("sich zu
entschliessen"), es anfängt (conatur), so müsse es auch ge-
lingen, fertig werden; es ist nicht blos möglich, sondern,
als Werk betrachtet, sehr leicht. Man sagt zwar: er kann
sich nicht entschliessen, oder: es wird mir sehr schwer,
mich zu entschliessen; aber dann wirken die Umstände nicht
stark genug, um Willen und Versuch dieses Thuns hervor-
zurufen: die Frage wird gleichsam nicht dringend genug ge-
stellt; wenn Einer sieht, dass er sich entschliessen muss
(z. B. um nicht zu verhungern), so ist es so gut als sicher,

liche Zwecke verfolgend, über wirkliche Mittel verfügend
gedacht wird, so muss auch — sofern sie eine menschliche
sein soll — ein wirklicher Mensch oder eine Vielheit sol-
cher an ihrer Statt denken, wollen und agiren, ihre
Zwecke verfolgen, über ihre Mittel verfügen. Ein Einzelner
oder eine Vielheit: denn die Vielen können gleich einem
Einzelnen zusammendenken, zusammen ihre Willkür »for-
muliren« — nämlich 1) berathen, indem irgend Einer
sein Denken äussert, was er wünsche und für gut halte,
dass Alle wollen möchten, also ihrer Aller Gedanken in Be-
wegung setzend, anregend; sodann etwa Andere dasselbe
oder Aehnliches rathen oder aber dawider rathen; 2) be-
schliessen, indem Alle oder wenigstens so Viele als wollen
(indem die Uebrigen, sich indifferent verhaltend, durch
eigenen Willen sich selber und ihre Macht unwirksam
machen) etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen,
zu bejahen oder zu verneinen durch bestimmte Worte oder
Zeichen erklären, und also — da jede Stimme oder Will-
kür als gleich stark, als gleich schwer mit jeder anderen
gedacht wird — entweder ein Gleichgewicht entsteht: dann
ist kein Beschluss, keine Entscheidung vorhanden, oder aber
ein Mehr, ein Uebergewicht auf der einen oder der anderen,
der bejahenden oder der verneinenden Seite: dies bedeutet
jedesmal einen positiven Beschluss, möge derselbe die An-
nahme oder Ablehnung eines Gerathenen, Vorgeschlagenen
zum Inhalte haben. Der einzelne Mensch mus gedacht wer-
den als immer des Beschliessens fähig: das will wenig-
stens sagen, es sei immer möglich, dass er, gefragt oder
berathen — durch sich selber oder durch Andere — be-
jahende oder verneinende Antwort, Entscheidung gebe; es
heisst aber auch: wenn er es will und versucht (»sich zu
entschliessen«), es anfängt (conatur), so müsse es auch ge-
lingen, fertig werden; es ist nicht blos möglich, sondern,
als Werk betrachtet, sehr leicht. Man sagt zwar: er kann
sich nicht entschliessen, oder: es wird mir sehr schwer,
mich zu entschliessen; aber dann wirken die Umstände nicht
stark genug, um Willen und Versuch dieses Thuns hervor-
zurufen: die Frage wird gleichsam nicht dringend genug ge-
stellt; wenn Einer sieht, dass er sich entschliessen muss
(z. B. um nicht zu verhungern), so ist es so gut als sicher,

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[202/0238] liche Zwecke verfolgend, über wirkliche Mittel verfügend gedacht wird, so muss auch — sofern sie eine menschliche sein soll — ein wirklicher Mensch oder eine Vielheit sol- cher an ihrer Statt denken, wollen und agiren, ihre Zwecke verfolgen, über ihre Mittel verfügen. Ein Einzelner oder eine Vielheit: denn die Vielen können gleich einem Einzelnen zusammendenken, zusammen ihre Willkür »for- muliren« — nämlich 1) berathen, indem irgend Einer sein Denken äussert, was er wünsche und für gut halte, dass Alle wollen möchten, also ihrer Aller Gedanken in Be- wegung setzend, anregend; sodann etwa Andere dasselbe oder Aehnliches rathen oder aber dawider rathen; 2) be- schliessen, indem Alle oder wenigstens so Viele als wollen (indem die Uebrigen, sich indifferent verhaltend, durch eigenen Willen sich selber und ihre Macht unwirksam machen) etwas Bestimmtes zu wollen oder nicht zu wollen, zu bejahen oder zu verneinen durch bestimmte Worte oder Zeichen erklären, und also — da jede Stimme oder Will- kür als gleich stark, als gleich schwer mit jeder anderen gedacht wird — entweder ein Gleichgewicht entsteht: dann ist kein Beschluss, keine Entscheidung vorhanden, oder aber ein Mehr, ein Uebergewicht auf der einen oder der anderen, der bejahenden oder der verneinenden Seite: dies bedeutet jedesmal einen positiven Beschluss, möge derselbe die An- nahme oder Ablehnung eines Gerathenen, Vorgeschlagenen zum Inhalte haben. Der einzelne Mensch mus gedacht wer- den als immer des Beschliessens fähig: das will wenig- stens sagen, es sei immer möglich, dass er, gefragt oder berathen — durch sich selber oder durch Andere — be- jahende oder verneinende Antwort, Entscheidung gebe; es heisst aber auch: wenn er es will und versucht (»sich zu entschliessen«), es anfängt (conatur), so müsse es auch ge- lingen, fertig werden; es ist nicht blos möglich, sondern, als Werk betrachtet, sehr leicht. Man sagt zwar: er kann sich nicht entschliessen, oder: es wird mir sehr schwer, mich zu entschliessen; aber dann wirken die Umstände nicht stark genug, um Willen und Versuch dieses Thuns hervor- zurufen: die Frage wird gleichsam nicht dringend genug ge- stellt; wenn Einer sieht, dass er sich entschliessen muss (z. B. um nicht zu verhungern), so ist es so gut als sicher,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/238>, abgerufen am 25.11.2024.