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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Jeder weiss, durch Anlagen bedingt und das Gelingen
höchst verschieden. Aber eine schwache Anlage kann
durch starke Uebung einer starken, aber schlecht geübten
wenigstens gleichkommen. Dies trifft ebenso die Anlagen
zu besonderen Künsten und Leistungen, als die Anlagen zu
bestimmten Arten des Verhaltens, Thuns oder Denkens
überhaupt. Man ist gewohnt -- und hierin stimmt mit der
herkömmlichen Ansicht das Theorem Schopenhauers über-
ein -- als seelische Anlagen und Eigenschaften (nämlich
ausser den körperlichen) intellectuelle und moralische zu
unterscheiden. Dabei werden aber jene durchaus als Fähig-
keiten und nur diese als Neigungen oder Abneigungen ver-
standen. Für die gegenwärtige Betrachtung giebt es nur
Arten des Willens, welche einerseits in der gesammten
leiblichen Constitution ihre objective Wirklichkeit haben,
andererseits in jedem Zustande zugleich Fähigkeiten irgend-
welcher Vollkommenheit sind. Sie sind am deutlichsten
erkennbar durch die Dinge und Thätigkeiten, an welchen
das Wesen Gefallen findet; ferner aber durch die Dinge
und Thätigkeiten, an welche es sich leicht gewöhnt; endlich
durch jene, für welche es ein (leichtes, gutes) Gedächt-
niss hat. C) Alles, was aber dem Gefallen (d. i. dem hu-
manen Instincte), der Gewohnheit und dem Gedächtniss
eines Menschen angehört, kann als von seiner Natur zu
ihrem eigenthümlichen Inhalte assimilirt und verarbeitet
verstanden werden, in der Weise, dass es ein Ganzes oder
eine Einheit mit ihr ausmacht. Oder: wenn Gefallen mit
den ursprünglichen Eigenschaften der individuellen Natur
so völlig identisch angenommen wird, dass es durch blosses
Wachsthum des gesammten Organismus, unter günstigen
Umständen, sich entwickelt, so ist Gewohnheit (als durch
Uebung entwickelt) die andere Natur, und Gedächtniss
(durch Nachahmung und Erlernung) die dritte. Aber die
Natur eines jeden animalischen Wesens stellt sich unab-
änderlich dar in Annahme und Ausstossung, Angriff und
Abwehr, Nahung und Flucht oder, auf psychische und zu-
gleich mentale Weise ausgedrückt: in Lust und Schmerz,
Verlangen und Ekel, Hoffnung und Furcht; endlich durch
neutrale und logische Begriffe: in Bejahungen und Ver-

Jeder weiss, durch Anlagen bedingt und das Gelingen
höchst verschieden. Aber eine schwache Anlage kann
durch starke Uebung einer starken, aber schlecht geübten
wenigstens gleichkommen. Dies trifft ebenso die Anlagen
zu besonderen Künsten und Leistungen, als die Anlagen zu
bestimmten Arten des Verhaltens, Thuns oder Denkens
überhaupt. Man ist gewohnt — und hierin stimmt mit der
herkömmlichen Ansicht das Theorem Schopenhauers über-
ein — als seelische Anlagen und Eigenschaften (nämlich
ausser den körperlichen) intellectuelle und moralische zu
unterscheiden. Dabei werden aber jene durchaus als Fähig-
keiten und nur diese als Neigungen oder Abneigungen ver-
standen. Für die gegenwärtige Betrachtung giebt es nur
Arten des Willens, welche einerseits in der gesammten
leiblichen Constitution ihre objective Wirklichkeit haben,
andererseits in jedem Zustande zugleich Fähigkeiten irgend-
welcher Vollkommenheit sind. Sie sind am deutlichsten
erkennbar durch die Dinge und Thätigkeiten, an welchen
das Wesen Gefallen findet; ferner aber durch die Dinge
und Thätigkeiten, an welche es sich leicht gewöhnt; endlich
durch jene, für welche es ein (leichtes, gutes) Gedächt-
niss hat. C) Alles, was aber dem Gefallen (d. i. dem hu-
manen Instincte), der Gewohnheit und dem Gedächtniss
eines Menschen angehört, kann als von seiner Natur zu
ihrem eigenthümlichen Inhalte assimilirt und verarbeitet
verstanden werden, in der Weise, dass es ein Ganzes oder
eine Einheit mit ihr ausmacht. Oder: wenn Gefallen mit
den ursprünglichen Eigenschaften der individuellen Natur
so völlig identisch angenommen wird, dass es durch blosses
Wachsthum des gesammten Organismus, unter günstigen
Umständen, sich entwickelt, so ist Gewohnheit (als durch
Uebung entwickelt) die andere Natur, und Gedächtniss
(durch Nachahmung und Erlernung) die dritte. Aber die
Natur eines jeden animalischen Wesens stellt sich unab-
änderlich dar in Annahme und Ausstossung, Angriff und
Abwehr, Nahung und Flucht oder, auf psychische und zu-
gleich mentale Weise ausgedrückt: in Lust und Schmerz,
Verlangen und Ekel, Hoffnung und Furcht; endlich durch
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[117/0153] Jeder weiss, durch Anlagen bedingt und das Gelingen höchst verschieden. Aber eine schwache Anlage kann durch starke Uebung einer starken, aber schlecht geübten wenigstens gleichkommen. Dies trifft ebenso die Anlagen zu besonderen Künsten und Leistungen, als die Anlagen zu bestimmten Arten des Verhaltens, Thuns oder Denkens überhaupt. Man ist gewohnt — und hierin stimmt mit der herkömmlichen Ansicht das Theorem Schopenhauers über- ein — als seelische Anlagen und Eigenschaften (nämlich ausser den körperlichen) intellectuelle und moralische zu unterscheiden. Dabei werden aber jene durchaus als Fähig- keiten und nur diese als Neigungen oder Abneigungen ver- standen. Für die gegenwärtige Betrachtung giebt es nur Arten des Willens, welche einerseits in der gesammten leiblichen Constitution ihre objective Wirklichkeit haben, andererseits in jedem Zustande zugleich Fähigkeiten irgend- welcher Vollkommenheit sind. Sie sind am deutlichsten erkennbar durch die Dinge und Thätigkeiten, an welchen das Wesen Gefallen findet; ferner aber durch die Dinge und Thätigkeiten, an welche es sich leicht gewöhnt; endlich durch jene, für welche es ein (leichtes, gutes) Gedächt- niss hat. C) Alles, was aber dem Gefallen (d. i. dem hu- manen Instincte), der Gewohnheit und dem Gedächtniss eines Menschen angehört, kann als von seiner Natur zu ihrem eigenthümlichen Inhalte assimilirt und verarbeitet verstanden werden, in der Weise, dass es ein Ganzes oder eine Einheit mit ihr ausmacht. Oder: wenn Gefallen mit den ursprünglichen Eigenschaften der individuellen Natur so völlig identisch angenommen wird, dass es durch blosses Wachsthum des gesammten Organismus, unter günstigen Umständen, sich entwickelt, so ist Gewohnheit (als durch Uebung entwickelt) die andere Natur, und Gedächtniss (durch Nachahmung und Erlernung) die dritte. Aber die Natur eines jeden animalischen Wesens stellt sich unab- änderlich dar in Annahme und Ausstossung, Angriff und Abwehr, Nahung und Flucht oder, auf psychische und zu- gleich mentale Weise ausgedrückt: in Lust und Schmerz, Verlangen und Ekel, Hoffnung und Furcht; endlich durch neutrale und logische Begriffe: in Bejahungen und Ver-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/153>, abgerufen am 28.11.2024.