kann. Diese Arbeit ist die Ausbildung des Gehirnes, sein Wachsthum durch die unter beständiger Ernährung aus dem vegetativen System geschehenden mentalen Functionen selber. Die Kraft, welche durch dieselben geübt und ver- mehrt, zugleich aber von aussen empfangen wird, ist intel- lectuelle Erfahrung. Sie wird gegeben: theils durch die -- einzelnen und verbundenen -- Productionen der Sinnes- organe, welche jedesmal unter Mitwirkung der schon vor- handenen, Theile früherer Erfahrungen involvirenden Kraft des Gehirnes vollzogen werden; theils durch die Arbeiten aller übrigen Organe, besonders die durch Sinne und Ge- hirn dirigirten; unter welchen am bedeutendsten in seinen Wirkungen das eigene Sprechen ist: zugleich Uebung höchst complicirter Gehirn- und Muskelthätigkeit und wiederum wahrnehmender Empfang durch das eigene Ge- hör; theils endlich durch die gesonderte Thätigkeit des Gehirnes selber, welche von dreifacher Art ist, 1) Be- wahrung und Reproduction der unmittelbaren Ideen; die Function des eigentlichen "Gedächtnisses", 2) Gestal- tung derselben und Verbindung zu selbständigen Bildern, welche gleichsam eigenes Leben haben und sich vor dem "inneren Auge" zu bewegen scheinen; höchst "subjective" d. i. durch eine eigenthümliche Energie des Gedächtnisses bedingte Arbeit, die der Fantasie, 3) Auflösung und Zusammensetzung von Vorstellungen durch Namen, An- nahme und Abstossung derselben -- dies ist die bewusste Erinnerung, und erst von ihr eine besondere Abzwei- gung ist das vergleichende, mit Begriffen operirende Denken oder Rechnen. B) Die Ausbildung bestimmter Arten des Gefallens, als der Grundrichtungen des Willens, ist am meisten von inneren Bedingungen -- den Anlagen -- und am wenigsten von äusseren -- den Umständen -- abhängig. In der Entwicklung von Gewohnheiten mögen Anlagen und Umstände gleichmässig wirksam, aber von Modificationen des Gedächtnisses Umstände als überwiegend gedacht werden. Dies bedeutet dasselbe, als wenn die Er- folge der Uebung und jener besonderen Uebung, die als Erlernung unterschieden wurde, in die Schätzung fallen. Denn allerdings ist auch die Möglichkeit derselben, wie
kann. Diese Arbeit ist die Ausbildung des Gehirnes, sein Wachsthum durch die unter beständiger Ernährung aus dem vegetativen System geschehenden mentalen Functionen selber. Die Kraft, welche durch dieselben geübt und ver- mehrt, zugleich aber von aussen empfangen wird, ist intel- lectuelle Erfahrung. Sie wird gegeben: theils durch die — einzelnen und verbundenen — Productionen der Sinnes- organe, welche jedesmal unter Mitwirkung der schon vor- handenen, Theile früherer Erfahrungen involvirenden Kraft des Gehirnes vollzogen werden; theils durch die Arbeiten aller übrigen Organe, besonders die durch Sinne und Ge- hirn dirigirten; unter welchen am bedeutendsten in seinen Wirkungen das eigene Sprechen ist: zugleich Uebung höchst complicirter Gehirn- und Muskelthätigkeit und wiederum wahrnehmender Empfang durch das eigene Ge- hör; theils endlich durch die gesonderte Thätigkeit des Gehirnes selber, welche von dreifacher Art ist, 1) Be- wahrung und Reproduction der unmittelbaren Ideen; die Function des eigentlichen »Gedächtnisses«, 2) Gestal- tung derselben und Verbindung zu selbständigen Bildern, welche gleichsam eigenes Leben haben und sich vor dem »inneren Auge« zu bewegen scheinen; höchst »subjective« d. i. durch eine eigenthümliche Energie des Gedächtnisses bedingte Arbeit, die der Fantasie, 3) Auflösung und Zusammensetzung von Vorstellungen durch Namen, An- nahme und Abstossung derselben — dies ist die bewusste Erinnerung, und erst von ihr eine besondere Abzwei- gung ist das vergleichende, mit Begriffen operirende Denken oder Rechnen. B) Die Ausbildung bestimmter Arten des Gefallens, als der Grundrichtungen des Willens, ist am meisten von inneren Bedingungen — den Anlagen — und am wenigsten von äusseren — den Umständen — abhängig. In der Entwicklung von Gewohnheiten mögen Anlagen und Umstände gleichmässig wirksam, aber von Modificationen des Gedächtnisses Umstände als überwiegend gedacht werden. Dies bedeutet dasselbe, als wenn die Er- folge der Uebung und jener besonderen Uebung, die als Erlernung unterschieden wurde, in die Schätzung fallen. Denn allerdings ist auch die Möglichkeit derselben, wie
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kann. Diese Arbeit ist die Ausbildung des Gehirnes, sein
Wachsthum durch die unter beständiger Ernährung aus
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mehrt, zugleich aber von aussen empfangen wird, ist intel-
lectuelle Erfahrung. Sie wird gegeben: theils durch die —
einzelnen und verbundenen — Productionen der Sinnes-
organe, welche jedesmal unter Mitwirkung der schon vor-
handenen, Theile früherer Erfahrungen involvirenden Kraft
des Gehirnes vollzogen werden; theils durch die Arbeiten
aller übrigen Organe, besonders die durch Sinne und Ge-
hirn dirigirten; unter welchen am bedeutendsten in seinen
Wirkungen das eigene Sprechen ist: zugleich Uebung
höchst complicirter Gehirn- und Muskelthätigkeit und
wiederum wahrnehmender Empfang durch das eigene Ge-
hör; theils endlich durch die gesonderte Thätigkeit des
Gehirnes selber, welche von dreifacher Art ist, 1) Be-
wahrung und Reproduction der unmittelbaren Ideen; die
Function des eigentlichen »Gedächtnisses«, 2) Gestal-
tung derselben und Verbindung zu selbständigen Bildern,
welche gleichsam eigenes Leben haben und sich vor dem
»inneren Auge« zu bewegen scheinen; höchst »subjective«
d. i. durch eine eigenthümliche Energie des Gedächtnisses
bedingte Arbeit, die der Fantasie, 3) Auflösung und
Zusammensetzung von Vorstellungen durch Namen, An-
nahme und Abstossung derselben — dies ist die bewusste
Erinnerung, und erst von ihr eine besondere Abzwei-
gung ist das vergleichende, mit Begriffen operirende
Denken oder Rechnen. B) Die Ausbildung bestimmter
Arten des Gefallens, als der Grundrichtungen des Willens,
ist am meisten von inneren Bedingungen — den Anlagen
— und am wenigsten von äusseren — den Umständen —
abhängig. In der Entwicklung von Gewohnheiten mögen
Anlagen und Umstände gleichmässig wirksam, aber von
Modificationen des Gedächtnisses Umstände als überwiegend
gedacht werden. Dies bedeutet dasselbe, als wenn die Er-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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