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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 30te Januar.
verrathen werden. Derjenige ist mein Feind, welcher mir etwas
entdeckt, was mich zum Laster reizet. Wie unruhig würde ich
diese Nacht seyn, wenn ich alles wüßte, was dieser nnd jener von
mir geredet, oder über mich beschlossen hat! Aber laß ihn doch re-
den und beschliessen: es wird doch nichts daraus; denn hie ist Jm-
manuel. Kennet mich nur Gott von einer bessern Seite, so kan
ich der Unwissenheit oder Bosheit eines Sterblichen ganz gelassen
zusehen. Ich schmeichle mir, treue Freunde zu haben, und sie
versüssen mir meine Tage; in ihrem Umgang wird meine Men-
schenliebe geübt und verfeinert. Wie, wenn ich ausforschte, daß
sie sämtlich falsch wären? dann wehe mir und euch, ihr Armen!
Alsdann werden meine Almosen geringer und mit Widerwillen ge-
geben, und alle Menschen für Betrüger gehalten werden. Und
ich würde wol gar so weit gehen, daß ich in meinem Leben keinen
Freund mehr suchte. Und würde ich bei solcher Gemüthsart so
liebenswürdig seyn, daß andre mich aufsuchen solten? Unschädli-
cher Jrthum kan uns glücklich machen: aber unnütze Kentniß ist,
so zu reden, Ballast für unsre Seele. Aus eben dem Grunde
verlange ich nicht gar zu genau zu wissen, wie meine Almosen an-
gewendet werden. Wenn mir ein betrügerischer Bettler durch
seinen scheinbar gebrechlichen Körper, durch ängstliches Wimmern
und rührendes Gebet etwas ablockt: so freue ich mich meiner
Mildthätigkeit, und danke unserm Vater im Himmel, daß er mir
Macht und Gelegenheit gab, eins seiner Kinder versorgen zu hel-
fen. Man störet mich aber in dieser Freude, in diesem Gebet:
und bin ich nun glücklicher? Und werde ich, falls ich nicht hart-
herzig werden will, für ähnliche Betrüger mich hüten können?
Wenn mich ein Mensch erbauet, so ist es mir lieber, wenn ich sei-
nen unerbaulichen Wandel nicht erfahre.

Nur im Umgange mit dir, Allerheiligster! ist Unwissenheit
schädlich. An dir darf ich nicht befürchten etwas zu entdecken,
das mich schamroth von dir abwendig machte. Ich will in der
Stille jetzt nachspüren, was du mir auch heute gutes erzeiget hast.
Aber wo soll ich anfangen? Ehe ich den tausenden Theil gedacht
habe, siehe so überfällt mich der Schlaf; und auch der ist eine
neue Wohlthat, welche ich dir nur beim Erwachen verdanken kan!

Der

Der 30te Januar.
verrathen werden. Derjenige iſt mein Feind, welcher mir etwas
entdeckt, was mich zum Laſter reizet. Wie unruhig wuͤrde ich
dieſe Nacht ſeyn, wenn ich alles wuͤßte, was dieſer nnd jener von
mir geredet, oder uͤber mich beſchloſſen hat! Aber laß ihn doch re-
den und beſchlieſſen: es wird doch nichts daraus; denn hie iſt Jm-
manuel. Kennet mich nur Gott von einer beſſern Seite, ſo kan
ich der Unwiſſenheit oder Bosheit eines Sterblichen ganz gelaſſen
zuſehen. Ich ſchmeichle mir, treue Freunde zu haben, und ſie
verſuͤſſen mir meine Tage; in ihrem Umgang wird meine Men-
ſchenliebe geuͤbt und verfeinert. Wie, wenn ich ausforſchte, daß
ſie ſaͤmtlich falſch waͤren? dann wehe mir und euch, ihr Armen!
Alsdann werden meine Almoſen geringer und mit Widerwillen ge-
geben, und alle Menſchen fuͤr Betruͤger gehalten werden. Und
ich wuͤrde wol gar ſo weit gehen, daß ich in meinem Leben keinen
Freund mehr ſuchte. Und wuͤrde ich bei ſolcher Gemuͤthsart ſo
liebenswuͤrdig ſeyn, daß andre mich aufſuchen ſolten? Unſchaͤdli-
cher Jrthum kan uns gluͤcklich machen: aber unnuͤtze Kentniß iſt,
ſo zu reden, Ballaſt fuͤr unſre Seele. Aus eben dem Grunde
verlange ich nicht gar zu genau zu wiſſen, wie meine Almoſen an-
gewendet werden. Wenn mir ein betruͤgeriſcher Bettler durch
ſeinen ſcheinbar gebrechlichen Koͤrper, durch aͤngſtliches Wimmern
und ruͤhrendes Gebet etwas ablockt: ſo freue ich mich meiner
Mildthaͤtigkeit, und danke unſerm Vater im Himmel, daß er mir
Macht und Gelegenheit gab, eins ſeiner Kinder verſorgen zu hel-
fen. Man ſtoͤret mich aber in dieſer Freude, in dieſem Gebet:
und bin ich nun gluͤcklicher? Und werde ich, falls ich nicht hart-
herzig werden will, fuͤr aͤhnliche Betruͤger mich huͤten koͤnnen?
Wenn mich ein Menſch erbauet, ſo iſt es mir lieber, wenn ich ſei-
nen unerbaulichen Wandel nicht erfahre.

Nur im Umgange mit dir, Allerheiligſter! iſt Unwiſſenheit
ſchaͤdlich. An dir darf ich nicht befuͤrchten etwas zu entdecken,
das mich ſchamroth von dir abwendig machte. Ich will in der
Stille jetzt nachſpuͤren, was du mir auch heute gutes erzeiget haſt.
Aber wo ſoll ich anfangen? Ehe ich den tauſenden Theil gedacht
habe, ſiehe ſo uͤberfaͤllt mich der Schlaf; und auch der iſt eine
neue Wohlthat, welche ich dir nur beim Erwachen verdanken kan!

Der
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[62[92]/0099] Der 30te Januar. verrathen werden. Derjenige iſt mein Feind, welcher mir etwas entdeckt, was mich zum Laſter reizet. Wie unruhig wuͤrde ich dieſe Nacht ſeyn, wenn ich alles wuͤßte, was dieſer nnd jener von mir geredet, oder uͤber mich beſchloſſen hat! Aber laß ihn doch re- den und beſchlieſſen: es wird doch nichts daraus; denn hie iſt Jm- manuel. Kennet mich nur Gott von einer beſſern Seite, ſo kan ich der Unwiſſenheit oder Bosheit eines Sterblichen ganz gelaſſen zuſehen. Ich ſchmeichle mir, treue Freunde zu haben, und ſie verſuͤſſen mir meine Tage; in ihrem Umgang wird meine Men- ſchenliebe geuͤbt und verfeinert. Wie, wenn ich ausforſchte, daß ſie ſaͤmtlich falſch waͤren? dann wehe mir und euch, ihr Armen! Alsdann werden meine Almoſen geringer und mit Widerwillen ge- geben, und alle Menſchen fuͤr Betruͤger gehalten werden. Und ich wuͤrde wol gar ſo weit gehen, daß ich in meinem Leben keinen Freund mehr ſuchte. Und wuͤrde ich bei ſolcher Gemuͤthsart ſo liebenswuͤrdig ſeyn, daß andre mich aufſuchen ſolten? Unſchaͤdli- cher Jrthum kan uns gluͤcklich machen: aber unnuͤtze Kentniß iſt, ſo zu reden, Ballaſt fuͤr unſre Seele. Aus eben dem Grunde verlange ich nicht gar zu genau zu wiſſen, wie meine Almoſen an- gewendet werden. Wenn mir ein betruͤgeriſcher Bettler durch ſeinen ſcheinbar gebrechlichen Koͤrper, durch aͤngſtliches Wimmern und ruͤhrendes Gebet etwas ablockt: ſo freue ich mich meiner Mildthaͤtigkeit, und danke unſerm Vater im Himmel, daß er mir Macht und Gelegenheit gab, eins ſeiner Kinder verſorgen zu hel- fen. Man ſtoͤret mich aber in dieſer Freude, in dieſem Gebet: und bin ich nun gluͤcklicher? Und werde ich, falls ich nicht hart- herzig werden will, fuͤr aͤhnliche Betruͤger mich huͤten koͤnnen? Wenn mich ein Menſch erbauet, ſo iſt es mir lieber, wenn ich ſei- nen unerbaulichen Wandel nicht erfahre. Nur im Umgange mit dir, Allerheiligſter! iſt Unwiſſenheit ſchaͤdlich. An dir darf ich nicht befuͤrchten etwas zu entdecken, das mich ſchamroth von dir abwendig machte. Ich will in der Stille jetzt nachſpuͤren, was du mir auch heute gutes erzeiget haſt. Aber wo ſoll ich anfangen? Ehe ich den tauſenden Theil gedacht habe, ſiehe ſo uͤberfaͤllt mich der Schlaf; und auch der iſt eine neue Wohlthat, welche ich dir nur beim Erwachen verdanken kan! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 62[92]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/99>, abgerufen am 13.06.2024.