Solt ich alle Dinge wissen, Würd ich manchen Trieb vermissen Zur Tugend und Zufriedenheit. Alles forschen, sehn und hören, Würde meine Ruhe stören Und hab ich denn zum Ausspähn Zeit?
Je mehr wir von Gottes Werken und Absichten verstehen: desto heilsamer ist es uns. Bei jeder neuen Erkentniß, die wir von seinem Willen und von seinen Wegen erlangen, wächst unsre Liebe und Ehrfurcht. O! warum bin ich denn hier nicht wißbegieriger, wo meine Neugier so angenehm befriediget werden kan!
Je mehr wir uns selber kennen, und unsern verborgensten Gedanken, selbst in ihrer Entstehung, nachspüren: desto mehr Nutzen haben wir davon. Wie elend, wenn wir nach vollbrach- ter That sagen müssen: ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekom- men bin! Aber auch in dieser Absicht bin ich leider nicht neugierig genung! Höchst unbedachtsam setze ich voraus, daß in meinem Herzen alles durchsucht und aufgeräumet sey, und jage auswärts nach Neuigkeiten umher, da indessen in meiner Abwesenheit vie- les verwildert!
Es giebt eine glückliche Unwissenheit nicht allein im Ehestande, in der Freundschaft, bei unserm täglichen Gewerbe sondern auch beim christlichen Wandel. Je mehr wir dem Näch- sten auflauren, und ihm in seinen Winkeln nachschleichen: desto mehr Unruhe und Gefahren setzen wir uns aus. Es giebt wenige, welche diese Probe aushalten: und was haben wir nun davon, wenn wir uns schlechtere Begriffe von ihnen erworben haben? Die Menschenliebe, diese so nothwendige Tugend, wofern wir Gott lieben wollen, ermatter, wenn wir sie zuviel auf Kund- schaft ausschicken. Nicht selten komt sie verwundet zurück, denn die meisten Menschen werden erbittert, wenn ihre Heimlichkeiten
ver-
Der 30te Januar.
Solt ich alle Dinge wiſſen, Wuͤrd ich manchen Trieb vermiſſen Zur Tugend und Zufriedenheit. Alles forſchen, ſehn und hoͤren, Wuͤrde meine Ruhe ſtoͤren Und hab ich denn zum Ausſpaͤhn Zeit?
Je mehr wir von Gottes Werken und Abſichten verſtehen: deſto heilſamer iſt es uns. Bei jeder neuen Erkentniß, die wir von ſeinem Willen und von ſeinen Wegen erlangen, waͤchſt unſre Liebe und Ehrfurcht. O! warum bin ich denn hier nicht wißbegieriger, wo meine Neugier ſo angenehm befriediget werden kan!
Je mehr wir uns ſelber kennen, und unſern verborgenſten Gedanken, ſelbſt in ihrer Entſtehung, nachſpuͤren: deſto mehr Nutzen haben wir davon. Wie elend, wenn wir nach vollbrach- ter That ſagen muͤſſen: ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekom- men bin! Aber auch in dieſer Abſicht bin ich leider nicht neugierig genung! Hoͤchſt unbedachtſam ſetze ich voraus, daß in meinem Herzen alles durchſucht und aufgeraͤumet ſey, und jage auswaͤrts nach Neuigkeiten umher, da indeſſen in meiner Abweſenheit vie- les verwildert!
Es giebt eine gluͤckliche Unwiſſenheit nicht allein im Eheſtande, in der Freundſchaft, bei unſerm taͤglichen Gewerbe ſondern auch beim chriſtlichen Wandel. Je mehr wir dem Naͤch- ſten auflauren, und ihm in ſeinen Winkeln nachſchleichen: deſto mehr Unruhe und Gefahren ſetzen wir uns aus. Es giebt wenige, welche dieſe Probe aushalten: und was haben wir nun davon, wenn wir uns ſchlechtere Begriffe von ihnen erworben haben? Die Menſchenliebe, dieſe ſo nothwendige Tugend, wofern wir Gott lieben wollen, ermatter, wenn wir ſie zuviel auf Kund- ſchaft ausſchicken. Nicht ſelten komt ſie verwundet zuruͤck, denn die meiſten Menſchen werden erbittert, wenn ihre Heimlichkeiten
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[61[91]/0098]
Der 30te Januar.
Solt ich alle Dinge wiſſen,
Wuͤrd ich manchen Trieb vermiſſen
Zur Tugend und Zufriedenheit.
Alles forſchen, ſehn und hoͤren,
Wuͤrde meine Ruhe ſtoͤren
Und hab ich denn zum Ausſpaͤhn Zeit?
Je mehr wir von Gottes Werken und Abſichten verſtehen: deſto
heilſamer iſt es uns. Bei jeder neuen Erkentniß, die wir von
ſeinem Willen und von ſeinen Wegen erlangen, waͤchſt unſre Liebe
und Ehrfurcht. O! warum bin ich denn hier nicht wißbegieriger,
wo meine Neugier ſo angenehm befriediget werden kan!
Je mehr wir uns ſelber kennen, und unſern verborgenſten
Gedanken, ſelbſt in ihrer Entſtehung, nachſpuͤren: deſto mehr
Nutzen haben wir davon. Wie elend, wenn wir nach vollbrach-
ter That ſagen muͤſſen: ich weiß gar nicht, wie ich dazu gekom-
men bin! Aber auch in dieſer Abſicht bin ich leider nicht neugierig
genung! Hoͤchſt unbedachtſam ſetze ich voraus, daß in meinem
Herzen alles durchſucht und aufgeraͤumet ſey, und jage auswaͤrts
nach Neuigkeiten umher, da indeſſen in meiner Abweſenheit vie-
les verwildert!
Es giebt eine gluͤckliche Unwiſſenheit nicht allein im
Eheſtande, in der Freundſchaft, bei unſerm taͤglichen Gewerbe
ſondern auch beim chriſtlichen Wandel. Je mehr wir dem Naͤch-
ſten auflauren, und ihm in ſeinen Winkeln nachſchleichen: deſto
mehr Unruhe und Gefahren ſetzen wir uns aus. Es giebt wenige,
welche dieſe Probe aushalten: und was haben wir nun davon,
wenn wir uns ſchlechtere Begriffe von ihnen erworben haben?
Die Menſchenliebe, dieſe ſo nothwendige Tugend, wofern wir
Gott lieben wollen, ermatter, wenn wir ſie zuviel auf Kund-
ſchaft ausſchicken. Nicht ſelten komt ſie verwundet zuruͤck, denn
die meiſten Menſchen werden erbittert, wenn ihre Heimlichkeiten
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 61[91]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/98>, abgerufen am 21.11.2024.
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