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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 3te Januar.
Wie selten, Gott! wird dein Geschenk bedacht!
Mir drückt ein sanfter Schlaf die Augenlieder:
Dem Kranken aber bringt die lange Nacht
Sein brennend Lager wieder!


Der Schlaf der Kranken, welche beschämende Lection
für die Gesunden! Ja! der balsamische Schlaf ist, gleich
der Gesundheit, den meisten eine unerkannte göttliche Wohlthat,
bis sie den Mangel davon empfinden. Millionen Gesunde sinken
jetzt, von starken Getränken, von Leidenschaft oder Müdigkeit
herauscht, auf weiche Pfüle darnieder, indem der Kranke an
eklen Arzeneien würgt, und der peinlichen Nacht entgegen bebet.
Wie höchst verschieden ist doch das Schicksal der Menschen! Auf
nächtlichen Bällen oder üppigen Gelagen trotzen einige der Natur
und erwehren sich des Schlafs als eine Last, wenn andre diesen
verscheuchten Schlaf mit Gold und Thränen sich gerne erkauften.
Der ermüdete Trunkenbold schnarcht; der Unzüchtige schleichet
noch gleich Dieben umher und will nicht schlafen: nur der kranke
betende Christ hat keine Wahl; gerne schlief er, aber er kan
nicht!

Jedoch, da es gewiß ist, daß der Allgütige uns sonst kein
Geschenk versagt, als wenn es uns schädlich wäre, so glaube ich,
daß die Aerzte Recht haben, wenn der Schlaf der Kranken, we-
gen vermehrter Hitze, in den meisten Fällen von ihnen für ge-
fährlich gehalten wird. Es ist mir entzückende Freude, wenn
ich die Güte unsers ewigen Vaters auch da erblicken kan, wo der
größte Theil sich zum Murren berechtiget glaubt. Ich würde
für das Aechzen der Kranken um mich her nicht schlafen können,

wenn
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Der 3te Januar.
Wie ſelten, Gott! wird dein Geſchenk bedacht!
Mir druͤckt ein ſanfter Schlaf die Augenlieder:
Dem Kranken aber bringt die lange Nacht
Sein brennend Lager wieder!


Der Schlaf der Kranken, welche beſchaͤmende Lection
fuͤr die Geſunden! Ja! der balſamiſche Schlaf iſt, gleich
der Geſundheit, den meiſten eine unerkannte goͤttliche Wohlthat,
bis ſie den Mangel davon empfinden. Millionen Geſunde ſinken
jetzt, von ſtarken Getraͤnken, von Leidenſchaft oder Muͤdigkeit
herauſcht, auf weiche Pfuͤle darnieder, indem der Kranke an
eklen Arzeneien wuͤrgt, und der peinlichen Nacht entgegen bebet.
Wie hoͤchſt verſchieden iſt doch das Schickſal der Menſchen! Auf
naͤchtlichen Baͤllen oder uͤppigen Gelagen trotzen einige der Natur
und erwehren ſich des Schlafs als eine Laſt, wenn andre dieſen
verſcheuchten Schlaf mit Gold und Thraͤnen ſich gerne erkauften.
Der ermuͤdete Trunkenbold ſchnarcht; der Unzuͤchtige ſchleichet
noch gleich Dieben umher und will nicht ſchlafen: nur der kranke
betende Chriſt hat keine Wahl; gerne ſchlief er, aber er kan
nicht!

Jedoch, da es gewiß iſt, daß der Allguͤtige uns ſonſt kein
Geſchenk verſagt, als wenn es uns ſchaͤdlich waͤre, ſo glaube ich,
daß die Aerzte Recht haben, wenn der Schlaf der Kranken, we-
gen vermehrter Hitze, in den meiſten Faͤllen von ihnen fuͤr ge-
faͤhrlich gehalten wird. Es iſt mir entzuͤckende Freude, wenn
ich die Guͤte unſers ewigen Vaters auch da erblicken kan, wo der
groͤßte Theil ſich zum Murren berechtiget glaubt. Ich wuͤrde
fuͤr das Aechzen der Kranken um mich her nicht ſchlafen koͤnnen,

wenn
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[7[37]/0044] Der 3te Januar. Wie ſelten, Gott! wird dein Geſchenk bedacht! Mir druͤckt ein ſanfter Schlaf die Augenlieder: Dem Kranken aber bringt die lange Nacht Sein brennend Lager wieder! Der Schlaf der Kranken, welche beſchaͤmende Lection fuͤr die Geſunden! Ja! der balſamiſche Schlaf iſt, gleich der Geſundheit, den meiſten eine unerkannte goͤttliche Wohlthat, bis ſie den Mangel davon empfinden. Millionen Geſunde ſinken jetzt, von ſtarken Getraͤnken, von Leidenſchaft oder Muͤdigkeit herauſcht, auf weiche Pfuͤle darnieder, indem der Kranke an eklen Arzeneien wuͤrgt, und der peinlichen Nacht entgegen bebet. Wie hoͤchſt verſchieden iſt doch das Schickſal der Menſchen! Auf naͤchtlichen Baͤllen oder uͤppigen Gelagen trotzen einige der Natur und erwehren ſich des Schlafs als eine Laſt, wenn andre dieſen verſcheuchten Schlaf mit Gold und Thraͤnen ſich gerne erkauften. Der ermuͤdete Trunkenbold ſchnarcht; der Unzuͤchtige ſchleichet noch gleich Dieben umher und will nicht ſchlafen: nur der kranke betende Chriſt hat keine Wahl; gerne ſchlief er, aber er kan nicht! Jedoch, da es gewiß iſt, daß der Allguͤtige uns ſonſt kein Geſchenk verſagt, als wenn es uns ſchaͤdlich waͤre, ſo glaube ich, daß die Aerzte Recht haben, wenn der Schlaf der Kranken, we- gen vermehrter Hitze, in den meiſten Faͤllen von ihnen fuͤr ge- faͤhrlich gehalten wird. Es iſt mir entzuͤckende Freude, wenn ich die Guͤte unſers ewigen Vaters auch da erblicken kan, wo der groͤßte Theil ſich zum Murren berechtiget glaubt. Ich wuͤrde fuͤr das Aechzen der Kranken um mich her nicht ſchlafen koͤnnen, wenn A 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 7[37]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/44>, abgerufen am 24.11.2024.