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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 19te Junius.
Nirgend, als von dir allein,
Kan ich recht bewahret seyn.


Gott! wie merklich klein wird doch der Mensch, wenn er
keinen Beistand hat! Es bedarf eben keiner Furcht vor
Gespenstern, noch eines unruhigen Gewissens, um ein gewisses
Grauen bei der Nachtzeit zu empfinden. Die meisten
Menschen verlieren in dunkler Einsamkeit viel von ihrem Mut,
und fürchten sich ohne zu wissen vor wem. Sie sehen und hören
bei der Nachtzeit alles grösser, und gehen schüchtern wie Fremd-
linge in ihrer eigenen Wohnung umher.

Die horchende Stille und blasse Dämmerung der Mitter-
nacht jagen uns manches Schrecken ein. Was wir am Tage
nicht achten, fält uns alsdann auf. Die weniger zerstreute
Einbildungskraft thürmet und verunstaltet alles, und wir müssen
oft die Vernunft herbeirufen, daß sie ihr einen Verweis gebe.
Es springt eine Saite, es schwindet und knackt ein Brett, ein
Thier poltert über oder neben uns hin: wir fahren zusammen,
und schämen uns gleich darauf unsrer Furchtsamkeit. Das
geringste Geräusch erregt in uns den Verdacht von Unfug und
Dieben. Das Schwirren der Eule, das Geschrei einer Katze,
das Schnarchen eines in der Nähe Schlafenden, und hundert
andre Kleinigkeiten werden in der Mitternacht wichtig und ver-
ursachen einiges Grauen. Und wie alsdann das Gehör alles ver-
grössert, so täuschet uns auch das Gesicht; es verwandelt Bäume
in Menschen, macht aus Zwergen Riesen und der Mondschein
mahlet wachsende Gespenster im Leichengewande. Die Ursache
kan bei vielen Menschen verschieden seyn, aber die Würkung ist
gleich: selbst Frommen, Weltweisen und Helden wäre es nicht
gleichgültig, wenn sie einsam eine Nacht in einer Kirche, oder
auf einem Todtenacker zubringen solten.

Das
Tiedens Abendand. I. Th. Z


Der 19te Junius.
Nirgend, als von dir allein,
Kan ich recht bewahret ſeyn.


Gott! wie merklich klein wird doch der Menſch, wenn er
keinen Beiſtand hat! Es bedarf eben keiner Furcht vor
Geſpenſtern, noch eines unruhigen Gewiſſens, um ein gewiſſes
Grauen bei der Nachtzeit zu empfinden. Die meiſten
Menſchen verlieren in dunkler Einſamkeit viel von ihrem Mut,
und fuͤrchten ſich ohne zu wiſſen vor wem. Sie ſehen und hoͤren
bei der Nachtzeit alles groͤſſer, und gehen ſchuͤchtern wie Fremd-
linge in ihrer eigenen Wohnung umher.

Die horchende Stille und blaſſe Daͤmmerung der Mitter-
nacht jagen uns manches Schrecken ein. Was wir am Tage
nicht achten, faͤlt uns alsdann auf. Die weniger zerſtreute
Einbildungskraft thuͤrmet und verunſtaltet alles, und wir muͤſſen
oft die Vernunft herbeirufen, daß ſie ihr einen Verweis gebe.
Es ſpringt eine Saite, es ſchwindet und knackt ein Brett, ein
Thier poltert uͤber oder neben uns hin: wir fahren zuſammen,
und ſchaͤmen uns gleich darauf unſrer Furchtſamkeit. Das
geringſte Geraͤuſch erregt in uns den Verdacht von Unfug und
Dieben. Das Schwirren der Eule, das Geſchrei einer Katze,
das Schnarchen eines in der Naͤhe Schlafenden, und hundert
andre Kleinigkeiten werden in der Mitternacht wichtig und ver-
urſachen einiges Grauen. Und wie alsdann das Gehoͤr alles ver-
groͤſſert, ſo taͤuſchet uns auch das Geſicht; es verwandelt Baͤume
in Menſchen, macht aus Zwergen Rieſen und der Mondſchein
mahlet wachſende Geſpenſter im Leichengewande. Die Urſache
kan bei vielen Menſchen verſchieden ſeyn, aber die Wuͤrkung iſt
gleich: ſelbſt Frommen, Weltweiſen und Helden waͤre es nicht
gleichguͤltig, wenn ſie einſam eine Nacht in einer Kirche, oder
auf einem Todtenacker zubringen ſolten.

Das
Tiedens Abendand. I. Th. Z
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[353[383]/0390] Der 19te Junius. Nirgend, als von dir allein, Kan ich recht bewahret ſeyn. Gott! wie merklich klein wird doch der Menſch, wenn er keinen Beiſtand hat! Es bedarf eben keiner Furcht vor Geſpenſtern, noch eines unruhigen Gewiſſens, um ein gewiſſes Grauen bei der Nachtzeit zu empfinden. Die meiſten Menſchen verlieren in dunkler Einſamkeit viel von ihrem Mut, und fuͤrchten ſich ohne zu wiſſen vor wem. Sie ſehen und hoͤren bei der Nachtzeit alles groͤſſer, und gehen ſchuͤchtern wie Fremd- linge in ihrer eigenen Wohnung umher. Die horchende Stille und blaſſe Daͤmmerung der Mitter- nacht jagen uns manches Schrecken ein. Was wir am Tage nicht achten, faͤlt uns alsdann auf. Die weniger zerſtreute Einbildungskraft thuͤrmet und verunſtaltet alles, und wir muͤſſen oft die Vernunft herbeirufen, daß ſie ihr einen Verweis gebe. Es ſpringt eine Saite, es ſchwindet und knackt ein Brett, ein Thier poltert uͤber oder neben uns hin: wir fahren zuſammen, und ſchaͤmen uns gleich darauf unſrer Furchtſamkeit. Das geringſte Geraͤuſch erregt in uns den Verdacht von Unfug und Dieben. Das Schwirren der Eule, das Geſchrei einer Katze, das Schnarchen eines in der Naͤhe Schlafenden, und hundert andre Kleinigkeiten werden in der Mitternacht wichtig und ver- urſachen einiges Grauen. Und wie alsdann das Gehoͤr alles ver- groͤſſert, ſo taͤuſchet uns auch das Geſicht; es verwandelt Baͤume in Menſchen, macht aus Zwergen Rieſen und der Mondſchein mahlet wachſende Geſpenſter im Leichengewande. Die Urſache kan bei vielen Menſchen verſchieden ſeyn, aber die Wuͤrkung iſt gleich: ſelbſt Frommen, Weltweiſen und Helden waͤre es nicht gleichguͤltig, wenn ſie einſam eine Nacht in einer Kirche, oder auf einem Todtenacker zubringen ſolten. Das Tiedens Abendand. I. Th. Z

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 353[383]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/390>, abgerufen am 22.07.2024.