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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 7te Junius.
vierte Theil von euch wird binnen zwei Jahren schon wieder ver-
sterben; die Hälfte wird nicht zwanzig Jahr alt. Komt es hoch,
so werdet ihr euren heutigen Geburtstag sechzigmal etwa feiern,
und dann das Grab wünschen. Laßt euch nicht täuschen. Die
ersten Jahre pfleget man eurer, als ob der Welt sehr viel an euch
läge: aber bald setzet man euch vom Schooß auf die Erde, und
hält euch nichts mehr zu gut. Eure Eltern und besten Freunde
werden nach und nach von euch getrennet, oder werden alt, arm
und mürrisch. Arbeit genug wartet euer schon, wachset nur
bald heran: ihr werdet mit Leib und Seele dienen müssen. Es
leben Treiber, und werden noch geboren werden, die euch mehr
Thränen kosten werden, als euer jetziger Eintritt in den Men-
schenorden. Zuerst werdet ihr Hunger, Durst und Leibesschmer-
zen kennen lernen: ach! meine geliebten kleinen Freunde! mögtet
ihr doch niemals lernen, was brausende Affekten, Verführung
und Gewissensbisse sind. Schlafen und Schreien ist euer jetziger
Beruf: und denkt: man hält euch dabei für die glücklichste Men-
schen! Solte ich euch alle wahrscheinliche Krankheiten, Gefahren,
Unglücksfälle und Verdrießlichkeiten schildern, so würdet ihr eurer
Mutter noch heftiger entgegen schreien. Aber das ärgste sage
ich euch nicht, weil es bei euch stehet, ihm zu entgehen und selig
zu werden. Und das ist der einzige Werth eures Lebens. Ohne
Tugend wär es euch besser, nie geboren zu seyn. Einigen von
euch, welche nun nächstens durch die heilige Taufe einen grossen
Vorzug bekommen, wird der Weg zum Himmel erleichtert, aber
auch desto mehr von ihnen gefodert werden. Der Sohn Gottes
legte euch allen einen hohen Werth bei --

Jedoch, ihr schlafet bei meiner Moral, wie wir Erwachsnen
bei den Ermahnungen Gottes, ein! Jch werde euch ähnlich, und
wann ich nun schlafe, bin ich euch gleich. Ach, Vater im Him-
mel! könte ich doch so unschuldig daliegen und einschlafen! O!
nim mich wieder zu deinem Kinde an!

Der

Der 7te Junius.
vierte Theil von euch wird binnen zwei Jahren ſchon wieder ver-
ſterben; die Haͤlfte wird nicht zwanzig Jahr alt. Komt es hoch,
ſo werdet ihr euren heutigen Geburtstag ſechzigmal etwa feiern,
und dann das Grab wuͤnſchen. Laßt euch nicht taͤuſchen. Die
erſten Jahre pfleget man eurer, als ob der Welt ſehr viel an euch
laͤge: aber bald ſetzet man euch vom Schooß auf die Erde, und
haͤlt euch nichts mehr zu gut. Eure Eltern und beſten Freunde
werden nach und nach von euch getrennet, oder werden alt, arm
und muͤrriſch. Arbeit genug wartet euer ſchon, wachſet nur
bald heran: ihr werdet mit Leib und Seele dienen muͤſſen. Es
leben Treiber, und werden noch geboren werden, die euch mehr
Thraͤnen koſten werden, als euer jetziger Eintritt in den Men-
ſchenorden. Zuerſt werdet ihr Hunger, Durſt und Leibesſchmer-
zen kennen lernen: ach! meine geliebten kleinen Freunde! moͤgtet
ihr doch niemals lernen, was brauſende Affekten, Verfuͤhrung
und Gewiſſensbiſſe ſind. Schlafen und Schreien iſt euer jetziger
Beruf: und denkt: man haͤlt euch dabei fuͤr die gluͤcklichſte Men-
ſchen! Solte ich euch alle wahrſcheinliche Krankheiten, Gefahren,
Ungluͤcksfaͤlle und Verdrießlichkeiten ſchildern, ſo wuͤrdet ihr eurer
Mutter noch heftiger entgegen ſchreien. Aber das aͤrgſte ſage
ich euch nicht, weil es bei euch ſtehet, ihm zu entgehen und ſelig
zu werden. Und das iſt der einzige Werth eures Lebens. Ohne
Tugend waͤr es euch beſſer, nie geboren zu ſeyn. Einigen von
euch, welche nun naͤchſtens durch die heilige Taufe einen groſſen
Vorzug bekommen, wird der Weg zum Himmel erleichtert, aber
auch deſto mehr von ihnen gefodert werden. Der Sohn Gottes
legte euch allen einen hohen Werth bei —

Jedoch, ihr ſchlafet bei meiner Moral, wie wir Erwachſnen
bei den Ermahnungen Gottes, ein! Jch werde euch aͤhnlich, und
wann ich nun ſchlafe, bin ich euch gleich. Ach, Vater im Him-
mel! koͤnte ich doch ſo unſchuldig daliegen und einſchlafen! O!
nim mich wieder zu deinem Kinde an!

Der
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[330[360]/0367] Der 7te Junius. vierte Theil von euch wird binnen zwei Jahren ſchon wieder ver- ſterben; die Haͤlfte wird nicht zwanzig Jahr alt. Komt es hoch, ſo werdet ihr euren heutigen Geburtstag ſechzigmal etwa feiern, und dann das Grab wuͤnſchen. Laßt euch nicht taͤuſchen. Die erſten Jahre pfleget man eurer, als ob der Welt ſehr viel an euch laͤge: aber bald ſetzet man euch vom Schooß auf die Erde, und haͤlt euch nichts mehr zu gut. Eure Eltern und beſten Freunde werden nach und nach von euch getrennet, oder werden alt, arm und muͤrriſch. Arbeit genug wartet euer ſchon, wachſet nur bald heran: ihr werdet mit Leib und Seele dienen muͤſſen. Es leben Treiber, und werden noch geboren werden, die euch mehr Thraͤnen koſten werden, als euer jetziger Eintritt in den Men- ſchenorden. Zuerſt werdet ihr Hunger, Durſt und Leibesſchmer- zen kennen lernen: ach! meine geliebten kleinen Freunde! moͤgtet ihr doch niemals lernen, was brauſende Affekten, Verfuͤhrung und Gewiſſensbiſſe ſind. Schlafen und Schreien iſt euer jetziger Beruf: und denkt: man haͤlt euch dabei fuͤr die gluͤcklichſte Men- ſchen! Solte ich euch alle wahrſcheinliche Krankheiten, Gefahren, Ungluͤcksfaͤlle und Verdrießlichkeiten ſchildern, ſo wuͤrdet ihr eurer Mutter noch heftiger entgegen ſchreien. Aber das aͤrgſte ſage ich euch nicht, weil es bei euch ſtehet, ihm zu entgehen und ſelig zu werden. Und das iſt der einzige Werth eures Lebens. Ohne Tugend waͤr es euch beſſer, nie geboren zu ſeyn. Einigen von euch, welche nun naͤchſtens durch die heilige Taufe einen groſſen Vorzug bekommen, wird der Weg zum Himmel erleichtert, aber auch deſto mehr von ihnen gefodert werden. Der Sohn Gottes legte euch allen einen hohen Werth bei — Jedoch, ihr ſchlafet bei meiner Moral, wie wir Erwachſnen bei den Ermahnungen Gottes, ein! Jch werde euch aͤhnlich, und wann ich nun ſchlafe, bin ich euch gleich. Ach, Vater im Him- mel! koͤnte ich doch ſo unſchuldig daliegen und einſchlafen! O! nim mich wieder zu deinem Kinde an! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 330[360]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/367>, abgerufen am 02.10.2024.