Es ist allhier ein Jammerthal, Angst, Noth und Trübsal überall, Des Bleibens ist eine kleine Zeit, Voll Mühseligkeit, Und wers bedenkt, ist immer im Streit.
Morgen früh ist das eine veränderte Welt; denn ich finde nicht alle wieder, die ich diesen Abend verließ! Dreißig tausend treten diese Nacht vom Schauplatz ab, unter denen einige, ih- rem Alter und Verstande nach, eines längern Lebens fähig und würdig waren. Die Neugebornen wenigstens dreißig tau- send stark sind dagegen aufgetreten, welche nichts als weinen kön- nen. Ja! ehe ich meine Abendandacht schliesse, hören einige hundert Sterbende auf zu röcheln, und einige hundert kleine Schreier begrüssen die Welt.
Seyd mir willkommen, neue Mitmenschen! Aber ihr win- selt, und die euch Platz machen, winseln sterbend auch? Das ist eine schlechte Empfelung für die Erde! Nur mit dem Unter- schiede: daß bei jener Geächze die Umstehenden weinen, und bei eurem Gewimmer alles lächelt; und desto mehr lächelt, je mehr ihr schreiet. Arme kleine Ankömmlinge! wie gerne wolte ich euch auch mit freimütigem Lachen bewillkommen: aber erlaubt es nur, daß ich eine Thräne in eure Thränen weine. Eure Eltern und Wärter sind aus Eigenliebe froh: denn wißt es: fast alle Men- schen lachen, weinen, schmeicheln, stehlen, geben Almosen, und stürzen sich in den Tod aus -- Eigennutz.
Vernehmt mit wenig Worten die Schilderung eures ange- tretnen Postens! Rechnet auf dis angefangne Leben nichts. Der
vierte
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Der 7te Junius.
Es iſt allhier ein Jammerthal, Angſt, Noth und Truͤbſal uͤberall, Des Bleibens iſt eine kleine Zeit, Voll Muͤhſeligkeit, Und wers bedenkt, iſt immer im Streit.
Morgen fruͤh iſt das eine veraͤnderte Welt; denn ich finde nicht alle wieder, die ich dieſen Abend verließ! Dreißig tauſend treten dieſe Nacht vom Schauplatz ab, unter denen einige, ih- rem Alter und Verſtande nach, eines laͤngern Lebens faͤhig und wuͤrdig waren. Die Neugebornen wenigſtens dreißig tau- ſend ſtark ſind dagegen aufgetreten, welche nichts als weinen koͤn- nen. Ja! ehe ich meine Abendandacht ſchlieſſe, hoͤren einige hundert Sterbende auf zu roͤcheln, und einige hundert kleine Schreier begruͤſſen die Welt.
Seyd mir willkommen, neue Mitmenſchen! Aber ihr win- ſelt, und die euch Platz machen, winſeln ſterbend auch? Das iſt eine ſchlechte Empfelung fuͤr die Erde! Nur mit dem Unter- ſchiede: daß bei jener Geaͤchze die Umſtehenden weinen, und bei eurem Gewimmer alles laͤchelt; und deſto mehr laͤchelt, je mehr ihr ſchreiet. Arme kleine Ankoͤmmlinge! wie gerne wolte ich euch auch mit freimuͤtigem Lachen bewillkommen: aber erlaubt es nur, daß ich eine Thraͤne in eure Thraͤnen weine. Eure Eltern und Waͤrter ſind aus Eigenliebe froh: denn wißt es: faſt alle Men- ſchen lachen, weinen, ſchmeicheln, ſtehlen, geben Almoſen, und ſtuͤrzen ſich in den Tod aus — Eigennutz.
Vernehmt mit wenig Worten die Schilderung eures ange- tretnen Poſtens! Rechnet auf dis angefangne Leben nichts. Der
vierte
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[329[359]/0366]
Der 7te Junius.
Es iſt allhier ein Jammerthal,
Angſt, Noth und Truͤbſal uͤberall,
Des Bleibens iſt eine kleine Zeit,
Voll Muͤhſeligkeit,
Und wers bedenkt, iſt immer im Streit.
Morgen fruͤh iſt das eine veraͤnderte Welt; denn ich finde nicht
alle wieder, die ich dieſen Abend verließ! Dreißig tauſend
treten dieſe Nacht vom Schauplatz ab, unter denen einige, ih-
rem Alter und Verſtande nach, eines laͤngern Lebens faͤhig und
wuͤrdig waren. Die Neugebornen wenigſtens dreißig tau-
ſend ſtark ſind dagegen aufgetreten, welche nichts als weinen koͤn-
nen. Ja! ehe ich meine Abendandacht ſchlieſſe, hoͤren einige
hundert Sterbende auf zu roͤcheln, und einige hundert kleine
Schreier begruͤſſen die Welt.
Seyd mir willkommen, neue Mitmenſchen! Aber ihr win-
ſelt, und die euch Platz machen, winſeln ſterbend auch? Das iſt
eine ſchlechte Empfelung fuͤr die Erde! Nur mit dem Unter-
ſchiede: daß bei jener Geaͤchze die Umſtehenden weinen, und bei
eurem Gewimmer alles laͤchelt; und deſto mehr laͤchelt, je mehr
ihr ſchreiet. Arme kleine Ankoͤmmlinge! wie gerne wolte ich euch
auch mit freimuͤtigem Lachen bewillkommen: aber erlaubt es nur,
daß ich eine Thraͤne in eure Thraͤnen weine. Eure Eltern und
Waͤrter ſind aus Eigenliebe froh: denn wißt es: faſt alle Men-
ſchen lachen, weinen, ſchmeicheln, ſtehlen, geben Almoſen, und
ſtuͤrzen ſich in den Tod aus — Eigennutz.
Vernehmt mit wenig Worten die Schilderung eures ange-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 329[359]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/366>, abgerufen am 25.11.2024.
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