Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 17te Mai. ligte, meine Eigenliebe mir zulächelte, mein Herz sich seines Ge-fühls schmeichelte, und der Elende, den ich unterstützte, mir dank- bare Thränen zuweinte! Und wie? wenn die Welt, dieser Abgott des gewöhnlichen Menschen, dieser oft mehr als Gott gefürchtete Richter, meine Großmut nicht bemerkte? Wenn ich also um ihre süsse Belohnung kam? Würde ich da noch Herz genug gehabt haben, großmütig, wohlthuend zu seyn, blos auf Gott zu sehen, und um seinetwillen den Armen zu lieben? Nur dann erst war meine Handlung und ihre Quelle ohne Tadel! Tugend genug! ruft öfters die welt, zumal wenn sie Vot- Ewige Vorsehung! du hast mich auf einen Schauplatz gestel- Der
Der 17te Mai. ligte, meine Eigenliebe mir zulaͤchelte, mein Herz ſich ſeines Ge-fuͤhls ſchmeichelte, und der Elende, den ich unterſtuͤtzte, mir dank- bare Thraͤnen zuweinte! Und wie? wenn die Welt, dieſer Abgott des gewoͤhnlichen Menſchen, dieſer oft mehr als Gott gefuͤrchtete Richter, meine Großmut nicht bemerkte? Wenn ich alſo um ihre ſuͤſſe Belohnung kam? Wuͤrde ich da noch Herz genug gehabt haben, großmuͤtig, wohlthuend zu ſeyn, blos auf Gott zu ſehen, und um ſeinetwillen den Armen zu lieben? Nur dann erſt war meine Handlung und ihre Quelle ohne Tadel! Tugend genug! ruft oͤfters die welt, zumal wenn ſie Vot- Ewige Vorſehung! du haſt mich auf einen Schauplatz geſtel- Der
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Der 17te Mai.
ligte, meine Eigenliebe mir zulaͤchelte, mein Herz ſich ſeines Ge-
fuͤhls ſchmeichelte, und der Elende, den ich unterſtuͤtzte, mir dank-
bare Thraͤnen zuweinte! Und wie? wenn die Welt, dieſer Abgott
des gewoͤhnlichen Menſchen, dieſer oft mehr als Gott gefuͤrchtete
Richter, meine Großmut nicht bemerkte? Wenn ich alſo um ihre
ſuͤſſe Belohnung kam? Wuͤrde ich da noch Herz genug gehabt
haben, großmuͤtig, wohlthuend zu ſeyn, blos auf Gott zu ſehen,
und um ſeinetwillen den Armen zu lieben? Nur dann erſt war
meine Handlung und ihre Quelle ohne Tadel!
Tugend genug! ruft oͤfters die welt, zumal wenn ſie Vot-
theil davon hat: aber die Religion unterſucht die Urſachen meines
Betragens, und vor dem allſehenden Richter beſtehen die Gau-
keleien nicht, womit ich die bloͤdſichtigen Zuſchauer der Erde ver-
blenden kan.
Ewige Vorſehung! du haſt mich auf einen Schauplatz geſtel-
let, wo es leicht iſt, den Beifall der Zuſchauer zu verdienen! wo
ich ſo gar oft in einem falſchen Licht erſcheinen und dennoch ſchim-
mern kan! Nur du biſt der einzige, der erleuchtete Richter mei-
ner Tugenden! Laß mich ſtets den wichtigen Gedanken ver Augen
haben, daß mein Herz, meine Eigenliebe, mein Stolz und der Bei-
fall der Welt mich hintergehen koͤnnen! Laß mich mißtrauiſch in
meine eigene Tugend, und billig gegen fremde ſeyn. Auf dich laß
mich ſtets ſehen, ſonſt handle ich nie ganz rein und unſchuldig.
Uebereinſtimmig mit dir und deinen Geboten, Herr! dabei kan ich
den Beifall zujauchzender Suͤnder entbehren. Jhre Bewunderung
begleitet uns nur bis ans Schlafgemach, wo ſie uns dir uͤberlaſſen,
und vieleicht ſpoͤttiſch von dannen gehn. Wie weit bleiben ſie nicht
von unſerm Grabe ſtehn, und verwandeln ihren Lobſpruch in
Hohn! Weg mit dieſer Koſt der Ohren: ich begehre nur deinen
Beifall, mein Gott! Jſt mein jetziger Gottesdienſt eine Wuͤrkung
meiner Liebe und meines Gehorſams gegen deine Befehle; ſo ver-
ſageſt du mir deinen Beifall nicht, und erhoͤreſt meine Bitten fuͤr
eine ſanfte Nacht und fuͤr die Beſchuͤtzung der Meinigen.
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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