Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Der 8te Mai.
lege. Meine Blicke sind vieleicht sündlicher und für den Näch-
sten furchtbarer, als es seine Fäuste sind. Wenn jener einen
Menschen verwundet, so sündiget er vieleicht weniger, als wenn
ich ein Pferd oder eine Fliege quäle. Die Anlage zum Christen-
thum, Erziehung und Einsichten habe ich vor tausenden voraus;
aber eben deswegen wird mehr von mir gefodert, und darf ich bei
keiner Sünde schlummern. Wie gern verstecken wir uns hinter
die Feinheit unsrer äussern Sitten, als ob diese lauter Tugenden
wären! Aber die Sünden des Balls und der Dorfschenke sind sich
gleich. Eine Miene ist auf jenen so üppig, als in dieser die freche
Hand. Man kan in der Hofsprache so wild und unbändig seyn,
als in der Mundart der Bauern. Jn jener aber ist ein anstößi-
ges Wort noch weit anstößiger als in dieser. So ist es auch mit
den Sünden. Jhre Strafbarkeit wächst mit unsern Einsichten.
Je mehr gutes ich an mir habe, desto weniger solte ich in irgend
eine Sünde willigen, so sehr ihr auch Mode, Gewohnheit und
Leidenschaften das Wort reden. Wer viel von sich hält, geste-
het dem Himmel viele Schuld ein. Der Stolze ist immer in
Gefahr, nach Wechselrecht behandelt zu werden.

Weck mich also auf, Geist Gottes! so oft mein Gewissen
einschlummern will. Jede Sünde ist Gift, folglich eine jede ge-
fährlich; ihr Name mag heissen, wie er will. Ohne ein zärtli-
ches Gewissen bleibe ich, bei aller Lebensart und Feinheit der Sit-
ten, äusserst grob. Undankbarkeit gegen meinen Gott und Wohl-
thäter ist tölpischer, als die schlechteste Erziehung in bemoosten
Hütten; und nicht beten können ist lächerlicher, als wenn ein
Trunkner nicht reden kan. Jch muß dir ganz angehören, o Jesu!
oder ich bin deiner nicht werth. Berzeih mir meine bisher ver-
theidigte oder übersehene Sünden: ich will von morgen an mein
Gewissen öfters an seine Schuldigkeit erinnern. Sein Schlaf
ist weit gefährlicher, als wenn ich diese und einige folgende Nächte
schlaflos bliebe!

Der

Der 8te Mai.
lege. Meine Blicke ſind vieleicht ſuͤndlicher und fuͤr den Naͤch-
ſten furchtbarer, als es ſeine Faͤuſte ſind. Wenn jener einen
Menſchen verwundet, ſo ſuͤndiget er vieleicht weniger, als wenn
ich ein Pferd oder eine Fliege quaͤle. Die Anlage zum Chriſten-
thum, Erziehung und Einſichten habe ich vor tauſenden voraus;
aber eben deswegen wird mehr von mir gefodert, und darf ich bei
keiner Suͤnde ſchlummern. Wie gern verſtecken wir uns hinter
die Feinheit unſrer aͤuſſern Sitten, als ob dieſe lauter Tugenden
waͤren! Aber die Suͤnden des Balls und der Dorfſchenke ſind ſich
gleich. Eine Miene iſt auf jenen ſo uͤppig, als in dieſer die freche
Hand. Man kan in der Hofſprache ſo wild und unbaͤndig ſeyn,
als in der Mundart der Bauern. Jn jener aber iſt ein anſtoͤßi-
ges Wort noch weit anſtoͤßiger als in dieſer. So iſt es auch mit
den Suͤnden. Jhre Strafbarkeit waͤchſt mit unſern Einſichten.
Je mehr gutes ich an mir habe, deſto weniger ſolte ich in irgend
eine Suͤnde willigen, ſo ſehr ihr auch Mode, Gewohnheit und
Leidenſchaften das Wort reden. Wer viel von ſich haͤlt, geſte-
het dem Himmel viele Schuld ein. Der Stolze iſt immer in
Gefahr, nach Wechſelrecht behandelt zu werden.

Weck mich alſo auf, Geiſt Gottes! ſo oft mein Gewiſſen
einſchlummern will. Jede Suͤnde iſt Gift, folglich eine jede ge-
faͤhrlich; ihr Name mag heiſſen, wie er will. Ohne ein zaͤrtli-
ches Gewiſſen bleibe ich, bei aller Lebensart und Feinheit der Sit-
ten, aͤuſſerſt grob. Undankbarkeit gegen meinen Gott und Wohl-
thaͤter iſt toͤlpiſcher, als die ſchlechteſte Erziehung in bemooſten
Huͤtten; und nicht beten koͤnnen iſt laͤcherlicher, als wenn ein
Trunkner nicht reden kan. Jch muß dir ganz angehoͤren, o Jeſu!
oder ich bin deiner nicht werth. Berzeih mir meine bisher ver-
theidigte oder uͤberſehene Suͤnden: ich will von morgen an mein
Gewiſſen oͤfters an ſeine Schuldigkeit erinnern. Sein Schlaf
iſt weit gefaͤhrlicher, als wenn ich dieſe und einige folgende Naͤchte
ſchlaflos bliebe!

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0305" n="268[298]"/><fw place="top" type="header">Der 8<hi rendition="#sup">te</hi> Mai.</fw><lb/>
lege. Meine Blicke &#x017F;ind vieleicht &#x017F;u&#x0364;ndlicher und fu&#x0364;r den Na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten furchtbarer, als es &#x017F;eine Fa&#x0364;u&#x017F;te &#x017F;ind. Wenn jener einen<lb/>
Men&#x017F;chen verwundet, &#x017F;o &#x017F;u&#x0364;ndiget er vieleicht weniger, als wenn<lb/>
ich ein Pferd oder eine Fliege qua&#x0364;le. Die Anlage zum Chri&#x017F;ten-<lb/>
thum, Erziehung und Ein&#x017F;ichten habe ich vor tau&#x017F;enden voraus;<lb/>
aber eben deswegen wird mehr von mir gefodert, und darf ich bei<lb/>
keiner Su&#x0364;nde &#x017F;chlummern. Wie gern ver&#x017F;tecken wir uns hinter<lb/>
die Feinheit un&#x017F;rer a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Sitten, als ob die&#x017F;e lauter Tugenden<lb/>
wa&#x0364;ren! Aber die Su&#x0364;nden des Balls und der Dorf&#x017F;chenke &#x017F;ind &#x017F;ich<lb/>
gleich. Eine Miene i&#x017F;t auf jenen &#x017F;o u&#x0364;ppig, als in die&#x017F;er die freche<lb/>
Hand. Man kan in der Hof&#x017F;prache &#x017F;o wild und unba&#x0364;ndig &#x017F;eyn,<lb/>
als in der Mundart der Bauern. Jn jener aber i&#x017F;t ein an&#x017F;to&#x0364;ßi-<lb/>
ges Wort noch weit an&#x017F;to&#x0364;ßiger als in die&#x017F;er. So i&#x017F;t es auch mit<lb/>
den Su&#x0364;nden. Jhre Strafbarkeit wa&#x0364;ch&#x017F;t mit un&#x017F;ern Ein&#x017F;ichten.<lb/>
Je mehr gutes ich an mir habe, de&#x017F;to weniger &#x017F;olte ich in irgend<lb/>
eine Su&#x0364;nde willigen, &#x017F;o &#x017F;ehr ihr auch Mode, Gewohnheit und<lb/>
Leiden&#x017F;chaften das Wort reden. Wer viel von &#x017F;ich ha&#x0364;lt, ge&#x017F;te-<lb/>
het dem Himmel viele Schuld ein. Der Stolze i&#x017F;t immer in<lb/>
Gefahr, nach Wech&#x017F;elrecht behandelt zu werden.</p><lb/>
            <p>Weck mich al&#x017F;o auf, Gei&#x017F;t Gottes! &#x017F;o oft mein Gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ein&#x017F;chlummern will. Jede Su&#x0364;nde i&#x017F;t Gift, folglich eine jede ge-<lb/>
fa&#x0364;hrlich; ihr Name mag hei&#x017F;&#x017F;en, wie er will. Ohne ein za&#x0364;rtli-<lb/>
ches Gewi&#x017F;&#x017F;en bleibe ich, bei aller Lebensart und Feinheit der Sit-<lb/>
ten, a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;t grob. Undankbarkeit gegen meinen Gott und Wohl-<lb/>
tha&#x0364;ter i&#x017F;t to&#x0364;lpi&#x017F;cher, als die &#x017F;chlechte&#x017F;te Erziehung in bemoo&#x017F;ten<lb/>
Hu&#x0364;tten; und nicht beten ko&#x0364;nnen i&#x017F;t la&#x0364;cherlicher, als wenn ein<lb/>
Trunkner nicht reden kan. Jch muß dir ganz angeho&#x0364;ren, o Je&#x017F;u!<lb/>
oder ich bin deiner nicht werth. Berzeih mir meine bisher ver-<lb/>
theidigte oder u&#x0364;ber&#x017F;ehene Su&#x0364;nden: ich will von morgen an mein<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en o&#x0364;fters an &#x017F;eine Schuldigkeit erinnern. Sein Schlaf<lb/>
i&#x017F;t weit gefa&#x0364;hrlicher, als wenn ich die&#x017F;e und einige folgende Na&#x0364;chte<lb/>
&#x017F;chlaflos bliebe!</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268[298]/0305] Der 8te Mai. lege. Meine Blicke ſind vieleicht ſuͤndlicher und fuͤr den Naͤch- ſten furchtbarer, als es ſeine Faͤuſte ſind. Wenn jener einen Menſchen verwundet, ſo ſuͤndiget er vieleicht weniger, als wenn ich ein Pferd oder eine Fliege quaͤle. Die Anlage zum Chriſten- thum, Erziehung und Einſichten habe ich vor tauſenden voraus; aber eben deswegen wird mehr von mir gefodert, und darf ich bei keiner Suͤnde ſchlummern. Wie gern verſtecken wir uns hinter die Feinheit unſrer aͤuſſern Sitten, als ob dieſe lauter Tugenden waͤren! Aber die Suͤnden des Balls und der Dorfſchenke ſind ſich gleich. Eine Miene iſt auf jenen ſo uͤppig, als in dieſer die freche Hand. Man kan in der Hofſprache ſo wild und unbaͤndig ſeyn, als in der Mundart der Bauern. Jn jener aber iſt ein anſtoͤßi- ges Wort noch weit anſtoͤßiger als in dieſer. So iſt es auch mit den Suͤnden. Jhre Strafbarkeit waͤchſt mit unſern Einſichten. Je mehr gutes ich an mir habe, deſto weniger ſolte ich in irgend eine Suͤnde willigen, ſo ſehr ihr auch Mode, Gewohnheit und Leidenſchaften das Wort reden. Wer viel von ſich haͤlt, geſte- het dem Himmel viele Schuld ein. Der Stolze iſt immer in Gefahr, nach Wechſelrecht behandelt zu werden. Weck mich alſo auf, Geiſt Gottes! ſo oft mein Gewiſſen einſchlummern will. Jede Suͤnde iſt Gift, folglich eine jede ge- faͤhrlich; ihr Name mag heiſſen, wie er will. Ohne ein zaͤrtli- ches Gewiſſen bleibe ich, bei aller Lebensart und Feinheit der Sit- ten, aͤuſſerſt grob. Undankbarkeit gegen meinen Gott und Wohl- thaͤter iſt toͤlpiſcher, als die ſchlechteſte Erziehung in bemooſten Huͤtten; und nicht beten koͤnnen iſt laͤcherlicher, als wenn ein Trunkner nicht reden kan. Jch muß dir ganz angehoͤren, o Jeſu! oder ich bin deiner nicht werth. Berzeih mir meine bisher ver- theidigte oder uͤberſehene Suͤnden: ich will von morgen an mein Gewiſſen oͤfters an ſeine Schuldigkeit erinnern. Sein Schlaf iſt weit gefaͤhrlicher, als wenn ich dieſe und einige folgende Naͤchte ſchlaflos bliebe! Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/305
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 268[298]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/305>, abgerufen am 25.11.2024.