Zu schwaches Licht! das mir den Neiz der Tugend zeiget, Und vom Verstand nicht bis zum Herzen dringt! Vergebens lehret es, das Herz bleibt ungebeuget, Hat sein Gesetz, und folgt ihm unbedingt!
Meine jetzige Müdigkeit und Verdrossenheit schildert sehr leb- haft den mehrmaligen Zustand meines Gemüths ab. Das schlummernde Gewissen ist zwar Gottlob nicht todt, schlä- fet auch nicht ganz; denn sonst würde es jetzt nicht für Pflicht halten, gut zu denken, und mein Tagewerk durch eine Unterhal- tung mit Gott zu beschliessen. Aber, das muß ich doch gestehen, daß es öfters schlummert, und mir nur unvernehmlich zuspricht. Jch armer verrathner Sünder! wer wird mich erlösen von mei- nen mannigfachen Bedrängnissen! Jst es doch, als wenn meine Leidenschaften mein Gewissen bestochen hätten, daß es ihnen zu gefallen schweigen, oder höchstens nur flüstern muß!
Es gibt Sünden, bei deren Anhörung ich mich ereifere, und andre, bei denen ich lächle. Räuber und Mörder sind des To- des werth in meinen Augen, weil ich weiß, daß sie mir schaden aber nichts nützen können. Aber warum finde ich denn eben ihre Laster so sehr abscheulich? Soll denn ihre schlechte Erziehung, ihre Armut und brausendes Temperament in gar keinen Anschlag kom- men? O! wären sie in meiner Stelle, sie würden schwerlich ein- brechen oder morden! Jedoch, mein schlummerndes Gewissen! du hast es einst mit einem Richter zu thun, der nicht wie du nach verdorbner Eigenliebe und Affekten urtheilt. Der Einbruch, den jener Nichtswürdige in dieser Nacht unternimt, ist vieleicht nicht halb so strafbar, als wenn ich ohne feurigen Dank mich schlafen
lege.
Der 8te Mai.
Zu ſchwaches Licht! das mir den Neiz der Tugend zeiget, Und vom Verſtand nicht bis zum Herzen dringt! Vergebens lehret es, das Herz bleibt ungebeuget, Hat ſein Geſetz, und folgt ihm unbedingt!
Meine jetzige Muͤdigkeit und Verdroſſenheit ſchildert ſehr leb- haft den mehrmaligen Zuſtand meines Gemuͤths ab. Das ſchlummernde Gewiſſen iſt zwar Gottlob nicht todt, ſchlaͤ- fet auch nicht ganz; denn ſonſt wuͤrde es jetzt nicht fuͤr Pflicht halten, gut zu denken, und mein Tagewerk durch eine Unterhal- tung mit Gott zu beſchlieſſen. Aber, das muß ich doch geſtehen, daß es oͤfters ſchlummert, und mir nur unvernehmlich zuſpricht. Jch armer verrathner Suͤnder! wer wird mich erloͤſen von mei- nen mannigfachen Bedraͤngniſſen! Jſt es doch, als wenn meine Leidenſchaften mein Gewiſſen beſtochen haͤtten, daß es ihnen zu gefallen ſchweigen, oder hoͤchſtens nur fluͤſtern muß!
Es gibt Suͤnden, bei deren Anhoͤrung ich mich ereifere, und andre, bei denen ich laͤchle. Raͤuber und Moͤrder ſind des To- des werth in meinen Augen, weil ich weiß, daß ſie mir ſchaden aber nichts nuͤtzen koͤnnen. Aber warum finde ich denn eben ihre Laſter ſo ſehr abſcheulich? Soll denn ihre ſchlechte Erziehung, ihre Armut und brauſendes Temperament in gar keinen Anſchlag kom- men? O! waͤren ſie in meiner Stelle, ſie wuͤrden ſchwerlich ein- brechen oder morden! Jedoch, mein ſchlummerndes Gewiſſen! du haſt es einſt mit einem Richter zu thun, der nicht wie du nach verdorbner Eigenliebe und Affekten urtheilt. Der Einbruch, den jener Nichtswuͤrdige in dieſer Nacht unternimt, iſt vieleicht nicht halb ſo ſtrafbar, als wenn ich ohne feurigen Dank mich ſchlafen
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Der 8te Mai.
Zu ſchwaches Licht! das mir den Neiz der Tugend zeiget,
Und vom Verſtand nicht bis zum Herzen dringt!
Vergebens lehret es, das Herz bleibt ungebeuget,
Hat ſein Geſetz, und folgt ihm unbedingt!
Meine jetzige Muͤdigkeit und Verdroſſenheit ſchildert ſehr leb-
haft den mehrmaligen Zuſtand meines Gemuͤths ab. Das
ſchlummernde Gewiſſen iſt zwar Gottlob nicht todt, ſchlaͤ-
fet auch nicht ganz; denn ſonſt wuͤrde es jetzt nicht fuͤr Pflicht
halten, gut zu denken, und mein Tagewerk durch eine Unterhal-
tung mit Gott zu beſchlieſſen. Aber, das muß ich doch geſtehen,
daß es oͤfters ſchlummert, und mir nur unvernehmlich zuſpricht.
Jch armer verrathner Suͤnder! wer wird mich erloͤſen von mei-
nen mannigfachen Bedraͤngniſſen! Jſt es doch, als wenn meine
Leidenſchaften mein Gewiſſen beſtochen haͤtten, daß es ihnen zu
gefallen ſchweigen, oder hoͤchſtens nur fluͤſtern muß!
Es gibt Suͤnden, bei deren Anhoͤrung ich mich ereifere, und
andre, bei denen ich laͤchle. Raͤuber und Moͤrder ſind des To-
des werth in meinen Augen, weil ich weiß, daß ſie mir ſchaden
aber nichts nuͤtzen koͤnnen. Aber warum finde ich denn eben ihre
Laſter ſo ſehr abſcheulich? Soll denn ihre ſchlechte Erziehung, ihre
Armut und brauſendes Temperament in gar keinen Anſchlag kom-
men? O! waͤren ſie in meiner Stelle, ſie wuͤrden ſchwerlich ein-
brechen oder morden! Jedoch, mein ſchlummerndes Gewiſſen!
du haſt es einſt mit einem Richter zu thun, der nicht wie du nach
verdorbner Eigenliebe und Affekten urtheilt. Der Einbruch, den
jener Nichtswuͤrdige in dieſer Nacht unternimt, iſt vieleicht nicht
halb ſo ſtrafbar, als wenn ich ohne feurigen Dank mich ſchlafen
lege.
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 267[297]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/304>, abgerufen am 22.11.2024.
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