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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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zur ersten Auflage.
Buchs Hiob solten für jeden ein Muster seyn, der andre
rühren und erbauen will. Die Psalmen enthalten viel
Kirchengeschichte, Weltkentniß und Naturkunde; sie wür-
den weniger erbaulich seyn, wenn sie es nicht enthielten.
Salomo und nach ihm Jesus Sirach schrieben nicht
blos für den Verstand. Der Gelehrteste, der nichts als
seine Studirstube kennet, hätte solche praktische Lebens-
regeln nicht aufzusetzen gewußt. Im neuen Testamente
übertrift die Lehrart Jesu alle menschliche Kunst. Wel-
che Schriftauslegung und Vernunftschlüsse, wenn er mit
Nikodemo spricht! Aber auch welcher Kenner der Men-
schen, welcher Naturkundiger ist er, wenn er aus jedem
Vorfall Anlaß zur Erbauung hernimt! Seine Gleichnisse
aus dem Naturreiche sagten mehr und sagten es deutlicher,
als alle Systeme späterer Zeiten. Seine Jünger ahmten
ihm darin nach. Ohne unsre künstliche Homiletik (Kunst
zu predigen), bewiesen und erläuterten sie schön. Paulus
mag, der Kürze wegen, ein Beweis davon seyn. Die
dunkle Lehre von der Auferstehung der Todten erhellet er
durch das sterbende und wieder hervorkeimende Samen-
korn. Er wußte alles zur Erbauung zu nutzen; selbst die
Kleidertracht und Waffen der ihn bewachenden römischen
Soldaten wendete er zur Erläuterung der Glaubenslehre
an. Und wie bündig bediente er sich nicht öfters der Kir-
chengeschichte zu seinem Zweck!

Aber bald entstunden Partheien unter den Christen;
und nun darf es uns nicht wundern, daß jede recht haben
wolte, und daß das Beweisen der Religionssätze die Haupt-
sache ward. Die Kirchenväter sind ihres Vortrags wegen
viel zu entschuldigen, wenn man bedenkt, daß sie solche
Hülfsmittel, die Erbauung zu befördern, nicht hatten, als

wir
b 4

zur erſten Auflage.
Buchs Hiob ſolten fuͤr jeden ein Muſter ſeyn, der andre
ruͤhren und erbauen will. Die Pſalmen enthalten viel
Kirchengeſchichte, Weltkentniß und Naturkunde; ſie wuͤr-
den weniger erbaulich ſeyn, wenn ſie es nicht enthielten.
Salomo und nach ihm Jeſus Sirach ſchrieben nicht
blos fuͤr den Verſtand. Der Gelehrteſte, der nichts als
ſeine Studirſtube kennet, haͤtte ſolche praktiſche Lebens-
regeln nicht aufzuſetzen gewußt. Im neuen Teſtamente
uͤbertrift die Lehrart Jeſu alle menſchliche Kunſt. Wel-
che Schriftauslegung und Vernunftſchluͤſſe, wenn er mit
Nikodemo ſpricht! Aber auch welcher Kenner der Men-
ſchen, welcher Naturkundiger iſt er, wenn er aus jedem
Vorfall Anlaß zur Erbauung hernimt! Seine Gleichniſſe
aus dem Naturreiche ſagten mehr und ſagten es deutlicher,
als alle Syſteme ſpaͤterer Zeiten. Seine Juͤnger ahmten
ihm darin nach. Ohne unſre kuͤnſtliche Homiletik (Kunſt
zu predigen), bewieſen und erlaͤuterten ſie ſchoͤn. Paulus
mag, der Kuͤrze wegen, ein Beweis davon ſeyn. Die
dunkle Lehre von der Auferſtehung der Todten erhellet er
durch das ſterbende und wieder hervorkeimende Samen-
korn. Er wußte alles zur Erbauung zu nutzen; ſelbſt die
Kleidertracht und Waffen der ihn bewachenden roͤmiſchen
Soldaten wendete er zur Erlaͤuterung der Glaubenslehre
an. Und wie buͤndig bediente er ſich nicht oͤfters der Kir-
chengeſchichte zu ſeinem Zweck!

Aber bald entſtunden Partheien unter den Chriſten;
und nun darf es uns nicht wundern, daß jede recht haben
wolte, und daß das Beweiſen der Religionsſaͤtze die Haupt-
ſache ward. Die Kirchenvaͤter ſind ihres Vortrags wegen
viel zu entſchuldigen, wenn man bedenkt, daß ſie ſolche
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wir
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[21/0028] zur erſten Auflage. Buchs Hiob ſolten fuͤr jeden ein Muſter ſeyn, der andre ruͤhren und erbauen will. Die Pſalmen enthalten viel Kirchengeſchichte, Weltkentniß und Naturkunde; ſie wuͤr- den weniger erbaulich ſeyn, wenn ſie es nicht enthielten. Salomo und nach ihm Jeſus Sirach ſchrieben nicht blos fuͤr den Verſtand. Der Gelehrteſte, der nichts als ſeine Studirſtube kennet, haͤtte ſolche praktiſche Lebens- regeln nicht aufzuſetzen gewußt. Im neuen Teſtamente uͤbertrift die Lehrart Jeſu alle menſchliche Kunſt. Wel- che Schriftauslegung und Vernunftſchluͤſſe, wenn er mit Nikodemo ſpricht! Aber auch welcher Kenner der Men- ſchen, welcher Naturkundiger iſt er, wenn er aus jedem Vorfall Anlaß zur Erbauung hernimt! Seine Gleichniſſe aus dem Naturreiche ſagten mehr und ſagten es deutlicher, als alle Syſteme ſpaͤterer Zeiten. Seine Juͤnger ahmten ihm darin nach. Ohne unſre kuͤnſtliche Homiletik (Kunſt zu predigen), bewieſen und erlaͤuterten ſie ſchoͤn. Paulus mag, der Kuͤrze wegen, ein Beweis davon ſeyn. Die dunkle Lehre von der Auferſtehung der Todten erhellet er durch das ſterbende und wieder hervorkeimende Samen- korn. Er wußte alles zur Erbauung zu nutzen; ſelbſt die Kleidertracht und Waffen der ihn bewachenden roͤmiſchen Soldaten wendete er zur Erlaͤuterung der Glaubenslehre an. Und wie buͤndig bediente er ſich nicht oͤfters der Kir- chengeſchichte zu ſeinem Zweck! Aber bald entſtunden Partheien unter den Chriſten; und nun darf es uns nicht wundern, daß jede recht haben wolte, und daß das Beweiſen der Religionsſaͤtze die Haupt- ſache ward. Die Kirchenvaͤter ſind ihres Vortrags wegen viel zu entſchuldigen, wenn man bedenkt, daß ſie ſolche Huͤlfsmittel, die Erbauung zu befoͤrdern, nicht hatten, als wir b 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/28>, abgerufen am 20.05.2024.