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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 13te April.

Jedoch, für die meiste Menschen ist die Einsamkeit eine nö-
thige Erholung. Ein Mensch, der nicht Othem schöpft und aus-
ruhet, wird abgetrieben und wild. Er fühlet nicht ganz den Werth
seiner Menschheit, und kan, bei zu vielen Zerstreuungen, zu we-
nig an sich selbst gedenken. Denn man sage was man will: allein,
haben unsre Gedanken eine andre Richtung und Stärke, als in
der Gesellschaft. Jn der Einsamkeit ist der Freigelst weniger wi-
tzig; komt noch finstre Nacht hinzu, so hat er halb und halb Lust,
die Bibel zu glauben. Unser Ohr höret alsdann das leiseste Ge-
täusch, und das furchtsamste Flüstern des bisher unterdrückten
Gewissens. Unter tausend Sündern, welche sich bekehren, sind
nicht fünfe, welche den Entschluß dazu in einer grossen Gesellschaft
faßten. Gefängniß, einsame Reisen, Krankenbette und nächt-
liches Lager, thun mehr, als alle noch so dringende Bitten. Ver-
such, o Mensch! einen stundenlangen einsamen Spaziergang
[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]nter Gräbern, so wirst du klüger und edler denken, als du je in
der lautesten und glänzendsten Gesellschaft gedacht hast.

Und so nähere ich mich denn jetzt, nicht ohne deine gütige
Veranstaltung, mein Gott! jener nächtlichen Einsamkeit, die mir
schon so manchen heilsamen Gedanken eingeflösset hat. Jener klu-
ge Kaiser (Karl der fünfte) legte die Krone nieder, und verlangte
eine Zwischenzeit zwischen Leben und Tod. Jch will auch jedes-
mal mein Tagewerk etwas früher beschliessen, damit ich eine heil-
same Zwischenzeit unter Wachen und Schlafen gewinnen möge.
Und in dieser für mich wichtigen Frist will ich ganz für die Reli-
gion leben. Ein Mensch, der von der Arbeit matt, sich schlaf-
trunken entkleidet und sinnenlos ins Bette wirft, ist demjenigen
ähnlich, der sich täglich berauscht und niemals nüchtern wird. --
Alles sey jetzt still um mich her: dann höre ich die lispelnden Vor-
würfe meines Gewissens, fange an zu beten, Engel um mich her
wünschen mir Glück, und Gott besuchet mein nach ihm fragendes
Herz. Herr! kehre bei mir ein, den ich bin einsam; rede, ich
will hören; und dann segne mich, so will ich ruhig schlafen.

Der
Der 13te April.

Jedoch, fuͤr die meiſte Menſchen iſt die Einſamkeit eine noͤ-
thige Erholung. Ein Menſch, der nicht Othem ſchoͤpft und aus-
ruhet, wird abgetrieben und wild. Er fuͤhlet nicht ganz den Werth
ſeiner Menſchheit, und kan, bei zu vielen Zerſtreuungen, zu we-
nig an ſich ſelbſt gedenken. Denn man ſage was man will: allein,
haben unſre Gedanken eine andre Richtung und Staͤrke, als in
der Geſellſchaft. Jn der Einſamkeit iſt der Freigelſt weniger wi-
tzig; komt noch finſtre Nacht hinzu, ſo hat er halb und halb Luſt,
die Bibel zu glauben. Unſer Ohr hoͤret alsdann das leiſeſte Ge-
taͤuſch, und das furchtſamſte Fluͤſtern des bisher unterdruͤckten
Gewiſſens. Unter tauſend Suͤndern, welche ſich bekehren, ſind
nicht fuͤnfe, welche den Entſchluß dazu in einer groſſen Geſellſchaft
faßten. Gefaͤngniß, einſame Reiſen, Krankenbette und naͤcht-
liches Lager, thun mehr, als alle noch ſo dringende Bitten. Ver-
ſuch, o Menſch! einen ſtundenlangen einſamen Spaziergang
[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]nter Graͤbern, ſo wirſt du kluͤger und edler denken, als du je in
der lauteſten und glaͤnzendſten Geſellſchaft gedacht haſt.

Und ſo naͤhere ich mich denn jetzt, nicht ohne deine guͤtige
Veranſtaltung, mein Gott! jener naͤchtlichen Einſamkeit, die mir
ſchon ſo manchen heilſamen Gedanken eingefloͤſſet hat. Jener klu-
ge Kaiſer (Karl der fuͤnfte) legte die Krone nieder, und verlangte
eine Zwiſchenzeit zwiſchen Leben und Tod. Jch will auch jedes-
mal mein Tagewerk etwas fruͤher beſchlieſſen, damit ich eine heil-
ſame Zwiſchenzeit unter Wachen und Schlafen gewinnen moͤge.
Und in dieſer fuͤr mich wichtigen Friſt will ich ganz fuͤr die Reli-
gion leben. Ein Menſch, der von der Arbeit matt, ſich ſchlaf-
trunken entkleidet und ſinnenlos ins Bette wirft, iſt demjenigen
aͤhnlich, der ſich taͤglich berauſcht und niemals nuͤchtern wird. —
Alles ſey jetzt ſtill um mich her: dann hoͤre ich die liſpelnden Vor-
wuͤrfe meines Gewiſſens, fange an zu beten, Engel um mich her
wuͤnſchen mir Gluͤck, und Gott beſuchet mein nach ihm fragendes
Herz. Herr! kehre bei mir ein, den ich bin einſam; rede, ich
will hoͤren; und dann ſegne mich, ſo will ich ruhig ſchlafen.

Der
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[216[246]/0253] Der 13te April. Jedoch, fuͤr die meiſte Menſchen iſt die Einſamkeit eine noͤ- thige Erholung. Ein Menſch, der nicht Othem ſchoͤpft und aus- ruhet, wird abgetrieben und wild. Er fuͤhlet nicht ganz den Werth ſeiner Menſchheit, und kan, bei zu vielen Zerſtreuungen, zu we- nig an ſich ſelbſt gedenken. Denn man ſage was man will: allein, haben unſre Gedanken eine andre Richtung und Staͤrke, als in der Geſellſchaft. Jn der Einſamkeit iſt der Freigelſt weniger wi- tzig; komt noch finſtre Nacht hinzu, ſo hat er halb und halb Luſt, die Bibel zu glauben. Unſer Ohr hoͤret alsdann das leiſeſte Ge- taͤuſch, und das furchtſamſte Fluͤſtern des bisher unterdruͤckten Gewiſſens. Unter tauſend Suͤndern, welche ſich bekehren, ſind nicht fuͤnfe, welche den Entſchluß dazu in einer groſſen Geſellſchaft faßten. Gefaͤngniß, einſame Reiſen, Krankenbette und naͤcht- liches Lager, thun mehr, als alle noch ſo dringende Bitten. Ver- ſuch, o Menſch! einen ſtundenlangen einſamen Spaziergang _nter Graͤbern, ſo wirſt du kluͤger und edler denken, als du je in der lauteſten und glaͤnzendſten Geſellſchaft gedacht haſt. Und ſo naͤhere ich mich denn jetzt, nicht ohne deine guͤtige Veranſtaltung, mein Gott! jener naͤchtlichen Einſamkeit, die mir ſchon ſo manchen heilſamen Gedanken eingefloͤſſet hat. Jener klu- ge Kaiſer (Karl der fuͤnfte) legte die Krone nieder, und verlangte eine Zwiſchenzeit zwiſchen Leben und Tod. Jch will auch jedes- mal mein Tagewerk etwas fruͤher beſchlieſſen, damit ich eine heil- ſame Zwiſchenzeit unter Wachen und Schlafen gewinnen moͤge. Und in dieſer fuͤr mich wichtigen Friſt will ich ganz fuͤr die Reli- gion leben. Ein Menſch, der von der Arbeit matt, ſich ſchlaf- trunken entkleidet und ſinnenlos ins Bette wirft, iſt demjenigen aͤhnlich, der ſich taͤglich berauſcht und niemals nuͤchtern wird. — Alles ſey jetzt ſtill um mich her: dann hoͤre ich die liſpelnden Vor- wuͤrfe meines Gewiſſens, fange an zu beten, Engel um mich her wuͤnſchen mir Gluͤck, und Gott beſuchet mein nach ihm fragendes Herz. Herr! kehre bei mir ein, den ich bin einſam; rede, ich will hoͤren; und dann ſegne mich, ſo will ich ruhig ſchlafen. Der

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 216[246]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/253>, abgerufen am 25.11.2024.