Laß doch mein Herz nicht fernerhin Jn seiner Neigung wanken! Erhebe den verirrten Sinn Zu himlischen Gedanken!
Du, der du ewig derselbe bist! hör, o Gott! meine Seufzer über meinen Wankelmut! Noch schneller als sich die Frühlingswolken jagen; noch öfterer, als in diesem Monate, Schneegestöber, Regen, Stürme, Schlossen und heitre Son- nenblicke einander abwechseln: wechselt auch mein Herz in seinen Entschliessungen ab. Ach! meine Frömmigkeit ist immer April- wetter!
So wankt ein Rohr, vom Wind regiert: So irrt, von Leidenschaft verführt, Auch oftmals meine Seele!
Jn dieser Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern die Erde an. Und was hälfe mir das erste, wenn ich in der letz- ten stürbe! Es sind Zeiten gewesen, wo ich mir getrauet hätte, selig zu sterben; und dann kommen wieder so viele Tage, wo ich, wie Adam, mich ins dickste Gebüsch verstecken mögte, wenn ich deine Stimme in meinem Gewissen nur von weiten vernehme! Wie oft beschloß ich es, dieser oder jener anwachsenden Sünde Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt, und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den Trost hätte, daß ich sie mir nicht meistens selber legte!
Nein! dich darf ich nicht anklagen, gütigster Vater! deine Wege sind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine Unbeständigkeit, meine Zerstreuungen, mein Umherjagen nach
zeit-
O 3
Der 12te April.
Laß doch mein Herz nicht fernerhin Jn ſeiner Neigung wanken! Erhebe den verirrten Sinn Zu himliſchen Gedanken!
Du, der du ewig derſelbe biſt! hoͤr, o Gott! meine Seufzer uͤber meinen Wankelmut! Noch ſchneller als ſich die Fruͤhlingswolken jagen; noch oͤfterer, als in dieſem Monate, Schneegeſtoͤber, Regen, Stuͤrme, Schloſſen und heitre Son- nenblicke einander abwechſeln: wechſelt auch mein Herz in ſeinen Entſchlieſſungen ab. Ach! meine Froͤmmigkeit iſt immer April- wetter!
So wankt ein Rohr, vom Wind regiert: So irrt, von Leidenſchaft verfuͤhrt, Auch oftmals meine Seele!
Jn dieſer Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern die Erde an. Und was haͤlfe mir das erſte, wenn ich in der letz- ten ſtuͤrbe! Es ſind Zeiten geweſen, wo ich mir getrauet haͤtte, ſelig zu ſterben; und dann kommen wieder ſo viele Tage, wo ich, wie Adam, mich ins dickſte Gebuͤſch verſtecken moͤgte, wenn ich deine Stimme in meinem Gewiſſen nur von weiten vernehme! Wie oft beſchloß ich es, dieſer oder jener anwachſenden Suͤnde Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt, und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den Troſt haͤtte, daß ich ſie mir nicht meiſtens ſelber legte!
Nein! dich darf ich nicht anklagen, guͤtigſter Vater! deine Wege ſind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine Unbeſtaͤndigkeit, meine Zerſtreuungen, mein Umherjagen nach
zeit-
O 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0250"n="213[243]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 12<hirendition="#sup">te</hi> April.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">L</hi>aß doch mein Herz nicht fernerhin</l><lb/><l>Jn ſeiner Neigung wanken!</l><lb/><l>Erhebe den verirrten Sinn</l><lb/><l>Zu himliſchen Gedanken!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>u, der du ewig derſelbe biſt! hoͤr, o Gott! meine Seufzer<lb/>
uͤber meinen <hirendition="#fr">Wankelmut!</hi> Noch ſchneller als ſich die<lb/>
Fruͤhlingswolken jagen; noch oͤfterer, als in dieſem Monate,<lb/>
Schneegeſtoͤber, Regen, Stuͤrme, Schloſſen und heitre Son-<lb/>
nenblicke einander abwechſeln: wechſelt auch mein Herz in ſeinen<lb/>
Entſchlieſſungen ab. Ach! meine Froͤmmigkeit iſt immer April-<lb/>
wetter!</p><lb/><lgtype="poem"><l>So wankt ein Rohr, vom Wind regiert:</l><lb/><l>So irrt, von Leidenſchaft verfuͤhrt,</l><lb/><l>Auch oftmals meine Seele!</l></lg><lb/><p>Jn dieſer Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern<lb/>
die Erde an. Und was haͤlfe mir das erſte, wenn ich in der letz-<lb/>
ten ſtuͤrbe! Es ſind Zeiten geweſen, wo ich mir getrauet haͤtte,<lb/>ſelig zu ſterben; und dann kommen wieder ſo viele Tage, wo ich,<lb/>
wie Adam, mich ins dickſte Gebuͤſch verſtecken moͤgte, wenn ich<lb/>
deine Stimme in meinem Gewiſſen nur von weiten vernehme!<lb/>
Wie oft beſchloß ich es, dieſer oder jener anwachſenden Suͤnde<lb/>
Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt,<lb/>
und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den<lb/>
Troſt haͤtte, daß ich ſie mir nicht meiſtens ſelber legte!</p><lb/><p>Nein! dich darf ich nicht anklagen, guͤtigſter Vater! deine<lb/>
Wege ſind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine<lb/>
Unbeſtaͤndigkeit, meine Zerſtreuungen, mein Umherjagen nach<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">zeit-</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[213[243]/0250]
Der 12te April.
Laß doch mein Herz nicht fernerhin
Jn ſeiner Neigung wanken!
Erhebe den verirrten Sinn
Zu himliſchen Gedanken!
Du, der du ewig derſelbe biſt! hoͤr, o Gott! meine Seufzer
uͤber meinen Wankelmut! Noch ſchneller als ſich die
Fruͤhlingswolken jagen; noch oͤfterer, als in dieſem Monate,
Schneegeſtoͤber, Regen, Stuͤrme, Schloſſen und heitre Son-
nenblicke einander abwechſeln: wechſelt auch mein Herz in ſeinen
Entſchlieſſungen ab. Ach! meine Froͤmmigkeit iſt immer April-
wetter!
So wankt ein Rohr, vom Wind regiert:
So irrt, von Leidenſchaft verfuͤhrt,
Auch oftmals meine Seele!
Jn dieſer Stunde bet ich den Himmel, und in einer andern
die Erde an. Und was haͤlfe mir das erſte, wenn ich in der letz-
ten ſtuͤrbe! Es ſind Zeiten geweſen, wo ich mir getrauet haͤtte,
ſelig zu ſterben; und dann kommen wieder ſo viele Tage, wo ich,
wie Adam, mich ins dickſte Gebuͤſch verſtecken moͤgte, wenn ich
deine Stimme in meinem Gewiſſen nur von weiten vernehme!
Wie oft beſchloß ich es, dieſer oder jener anwachſenden Suͤnde
Einhalt zu thun: aber es wurden mir einige Schlingen gelegt,
und ich war aufs neue verwickelt. Ach! daß ich nur noch den
Troſt haͤtte, daß ich ſie mir nicht meiſtens ſelber legte!
Nein! dich darf ich nicht anklagen, guͤtigſter Vater! deine
Wege ſind gewiß, und deine Gebote unwandelbar. Aber meine
Unbeſtaͤndigkeit, meine Zerſtreuungen, mein Umherjagen nach
zeit-
O 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 213[243]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/250>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.