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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 1te April.
Oft pflanzet sich ein Vorurtheil
Gleich geilem Unkraut fort.


Der erste Tag dieses Monats schildert mir das menschliche
Geschlecht auf einer demüthigenden Art; denn er erinnert
mich, daß veralterte Vorurtheile so unheilbar sind, als
alte Krebsschaden. Das Aprilschicken ist eine mehr als
tausendjährige Thorheit. Von heidnischen Gebräuchen schreiben
sich unsre Weihnachts- und Neujahrsgeschenke her. Die Be-
grüssungen beim Niesen sind älter, als alle noch vorhandene Werke
der Vorwelt. Wird denn die klügere Welt verjährter Kindereien
nicht satt?

Wie mancher Thor wolte heut auf Kosten andrer klug schei-
nen, und blieb -- ein Thor. Aber so unwillig und schamroth
derjenige wird, den man seiner Gutwilligkeit wegen verlacht: so
unwillig und beschämt solten wir werden, wenn uns unsre Leiden-
schaften zum April schicken. Sie erregen unsre Neubegierde,
ertheilen uns mit verstelltem Ernst einen wichtigen Auftrag: wir
laufen, kommen leer zurück und -- lachen mit; statt daß wir
endlich der Neckereien überdrüßig werden solten. Ein Kind,
welches heute eine unmögliche Sache holen wolte, ist ein kleiner
Thor, der bei alle dem ganz liebenswürdig seyn kan. Aber ein
Mensch, der zum Reichthum oder zu hohen Ehrenstellen läuft,
und da nach Ruhe frägt, ist ein Thor erst[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]r G[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]össe, und aus-
zischenswerth, weil er so viele Exempel vor sich hat, und sich den-
noch täglich zum April schicken läßt. Der Unzüchtige und der
Verläumder, welche Aprilnarren! Jener will Wollust holen, und
suchet sie im Hospital! Dieser schildert andre lasterhaft, um selbst
für tugendhaft gehalten zu werden, und jeder fliehet doch bald
seine Gesellschaft, wie man vor einem Schlangenneste vorüber eilt.

So


Der 1te April.
Oft pflanzet ſich ein Vorurtheil
Gleich geilem Unkraut fort.


Der erſte Tag dieſes Monats ſchildert mir das menſchliche
Geſchlecht auf einer demuͤthigenden Art; denn er erinnert
mich, daß veralterte Vorurtheile ſo unheilbar ſind, als
alte Krebsſchaden. Das Aprilſchicken iſt eine mehr als
tauſendjaͤhrige Thorheit. Von heidniſchen Gebraͤuchen ſchreiben
ſich unſre Weihnachts- und Neujahrsgeſchenke her. Die Be-
gruͤſſungen beim Nieſen ſind aͤlter, als alle noch vorhandene Werke
der Vorwelt. Wird denn die kluͤgere Welt verjaͤhrter Kindereien
nicht ſatt?

Wie mancher Thor wolte heut auf Koſten andrer klug ſchei-
nen, und blieb — ein Thor. Aber ſo unwillig und ſchamroth
derjenige wird, den man ſeiner Gutwilligkeit wegen verlacht: ſo
unwillig und beſchaͤmt ſolten wir werden, wenn uns unſre Leiden-
ſchaften zum April ſchicken. Sie erregen unſre Neubegierde,
ertheilen uns mit verſtelltem Ernſt einen wichtigen Auftrag: wir
laufen, kommen leer zuruͤck und — lachen mit; ſtatt daß wir
endlich der Neckereien uͤberdruͤßig werden ſolten. Ein Kind,
welches heute eine unmoͤgliche Sache holen wolte, iſt ein kleiner
Thor, der bei alle dem ganz liebenswuͤrdig ſeyn kan. Aber ein
Menſch, der zum Reichthum oder zu hohen Ehrenſtellen laͤuft,
und da nach Ruhe fraͤgt, iſt ein Thor erſt[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]r G[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]oͤſſe, und aus-
ziſchenswerth, weil er ſo viele Exempel vor ſich hat, und ſich den-
noch taͤglich zum April ſchicken laͤßt. Der Unzuͤchtige und der
Verlaͤumder, welche Aprilnarren! Jener will Wolluſt holen, und
ſuchet ſie im Hoſpital! Dieſer ſchildert andre laſterhaft, um ſelbſt
fuͤr tugendhaft gehalten zu werden, und jeder fliehet doch bald
ſeine Geſellſchaft, wie man vor einem Schlangenneſte voruͤber eilt.

So
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[191[221]/0228] Der 1te April. Oft pflanzet ſich ein Vorurtheil Gleich geilem Unkraut fort. Der erſte Tag dieſes Monats ſchildert mir das menſchliche Geſchlecht auf einer demuͤthigenden Art; denn er erinnert mich, daß veralterte Vorurtheile ſo unheilbar ſind, als alte Krebsſchaden. Das Aprilſchicken iſt eine mehr als tauſendjaͤhrige Thorheit. Von heidniſchen Gebraͤuchen ſchreiben ſich unſre Weihnachts- und Neujahrsgeſchenke her. Die Be- gruͤſſungen beim Nieſen ſind aͤlter, als alle noch vorhandene Werke der Vorwelt. Wird denn die kluͤgere Welt verjaͤhrter Kindereien nicht ſatt? Wie mancher Thor wolte heut auf Koſten andrer klug ſchei- nen, und blieb — ein Thor. Aber ſo unwillig und ſchamroth derjenige wird, den man ſeiner Gutwilligkeit wegen verlacht: ſo unwillig und beſchaͤmt ſolten wir werden, wenn uns unſre Leiden- ſchaften zum April ſchicken. Sie erregen unſre Neubegierde, ertheilen uns mit verſtelltem Ernſt einen wichtigen Auftrag: wir laufen, kommen leer zuruͤck und — lachen mit; ſtatt daß wir endlich der Neckereien uͤberdruͤßig werden ſolten. Ein Kind, welches heute eine unmoͤgliche Sache holen wolte, iſt ein kleiner Thor, der bei alle dem ganz liebenswuͤrdig ſeyn kan. Aber ein Menſch, der zum Reichthum oder zu hohen Ehrenſtellen laͤuft, und da nach Ruhe fraͤgt, iſt ein Thor erſt_r G_oͤſſe, und aus- ziſchenswerth, weil er ſo viele Exempel vor ſich hat, und ſich den- noch taͤglich zum April ſchicken laͤßt. Der Unzuͤchtige und der Verlaͤumder, welche Aprilnarren! Jener will Wolluſt holen, und ſuchet ſie im Hoſpital! Dieſer ſchildert andre laſterhaft, um ſelbſt fuͤr tugendhaft gehalten zu werden, und jeder fliehet doch bald ſeine Geſellſchaft, wie man vor einem Schlangenneſte voruͤber eilt. So

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 191[221]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/228>, abgerufen am 21.11.2024.