Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 28te März.
Jch bitte, Herr! Gott Zebaoth!
Dich nicht um langes Leben.
Jm Glücke Demuth, Muth in Noth:
Das wollest du mir geben.
Jn deiner Hand steht meine Zeit;
Laß du mich nur Barmherzigkeit
Vor dir im Tode finden!


Je sündlicher ein Mensch ist, desto mehr pflegt er sich irdische
Schätze zu wünschen, und unter diesen stehet ein langes Le-
ben fast immer oben an. Ein Geiziger, der nicht einen Thaler
verthun kan, ohne lächerlich dabei zu werden, wünscht sich alle
Güter der Erde; und ein Thor, der keine Stunde gut anzu-
wenden weiß, verlanget das höchste Alter! Thörigter Wunsch
nach langem Leben,
wandelt auch wol Klugen wie eine Laune
an. Gleich als wenn es leicht wäre, sehr lange mit Anstand und
Vergnügen zu leben!

Nach dem vierzigsten Jahre meines Lebens giebt es beinahe
nichts neues und reizendes mehr für mich. Die Erde hat sich in
Absicht meiner erschöpft, und alles Vergnügen im Alter ist nur
eine Wiederkäuung, wofern ich kein Vergnügen an Gott finde!
Was ich im achzigsten, neunzigsten Jahre wünschen, hoffen und
geniessen könte: das kan ich ja ein halb Jahrhundert früher genies-
sen; ausser die neuen Aufschlüsse, welche mir die Religion giebt,
und ausser tägliche neue Gnadenbeweise Gottes. Nein! wir ha-
ben zu viel Gutes genossen, als daß uns im höchsten Alter noch

etwas
M 3


Der 28te Maͤrz.
Jch bitte, Herr! Gott Zebaoth!
Dich nicht um langes Leben.
Jm Gluͤcke Demuth, Muth in Noth:
Das wolleſt du mir geben.
Jn deiner Hand ſteht meine Zeit;
Laß du mich nur Barmherzigkeit
Vor dir im Tode finden!


Je ſuͤndlicher ein Menſch iſt, deſto mehr pflegt er ſich irdiſche
Schaͤtze zu wuͤnſchen, und unter dieſen ſtehet ein langes Le-
ben faſt immer oben an. Ein Geiziger, der nicht einen Thaler
verthun kan, ohne laͤcherlich dabei zu werden, wuͤnſcht ſich alle
Guͤter der Erde; und ein Thor, der keine Stunde gut anzu-
wenden weiß, verlanget das hoͤchſte Alter! Thoͤrigter Wunſch
nach langem Leben,
wandelt auch wol Klugen wie eine Laune
an. Gleich als wenn es leicht waͤre, ſehr lange mit Anſtand und
Vergnuͤgen zu leben!

Nach dem vierzigſten Jahre meines Lebens giebt es beinahe
nichts neues und reizendes mehr fuͤr mich. Die Erde hat ſich in
Abſicht meiner erſchoͤpft, und alles Vergnuͤgen im Alter iſt nur
eine Wiederkaͤuung, wofern ich kein Vergnuͤgen an Gott finde!
Was ich im achzigſten, neunzigſten Jahre wuͤnſchen, hoffen und
genieſſen koͤnte: das kan ich ja ein halb Jahrhundert fruͤher genieſ-
ſen; auſſer die neuen Aufſchluͤſſe, welche mir die Religion giebt,
und auſſer taͤgliche neue Gnadenbeweiſe Gottes. Nein! wir ha-
ben zu viel Gutes genoſſen, als daß uns im hoͤchſten Alter noch

etwas
M 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0218" n="181[211]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 28<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">J</hi>ch bitte, Herr! Gott Zebaoth!</l><lb/>
              <l>Dich nicht um langes Leben.</l><lb/>
              <l>Jm Glu&#x0364;cke Demuth, Muth in Noth:</l><lb/>
              <l>Das wolle&#x017F;t du mir geben.</l><lb/>
              <l>Jn deiner Hand &#x017F;teht meine Zeit;</l><lb/>
              <l>Laß du mich nur Barmherzigkeit</l><lb/>
              <l>Vor dir im Tode finden!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>e &#x017F;u&#x0364;ndlicher ein Men&#x017F;ch i&#x017F;t, de&#x017F;to mehr pflegt er &#x017F;ich irdi&#x017F;che<lb/>
Scha&#x0364;tze zu wu&#x0364;n&#x017F;chen, und unter die&#x017F;en &#x017F;tehet ein langes Le-<lb/>
ben fa&#x017F;t immer oben an. Ein Geiziger, der nicht einen Thaler<lb/>
verthun kan, ohne la&#x0364;cherlich dabei zu werden, wu&#x0364;n&#x017F;cht &#x017F;ich alle<lb/>
Gu&#x0364;ter der Erde; und ein Thor, der keine Stunde gut anzu-<lb/>
wenden weiß, verlanget das ho&#x0364;ch&#x017F;te Alter! <hi rendition="#fr">Tho&#x0364;rigter Wun&#x017F;ch<lb/>
nach langem Leben,</hi> wandelt auch wol Klugen wie eine Laune<lb/>
an. Gleich als wenn es leicht wa&#x0364;re, &#x017F;ehr lange mit An&#x017F;tand und<lb/>
Vergnu&#x0364;gen zu leben!</p><lb/>
            <p>Nach dem vierzig&#x017F;ten Jahre meines Lebens giebt es beinahe<lb/>
nichts neues und reizendes mehr fu&#x0364;r mich. Die Erde hat &#x017F;ich in<lb/>
Ab&#x017F;icht meiner er&#x017F;cho&#x0364;pft, und alles Vergnu&#x0364;gen im Alter i&#x017F;t nur<lb/>
eine Wiederka&#x0364;uung, wofern ich kein Vergnu&#x0364;gen an Gott finde!<lb/>
Was ich im achzig&#x017F;ten, neunzig&#x017F;ten Jahre wu&#x0364;n&#x017F;chen, hoffen und<lb/>
genie&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nte: das kan ich ja ein halb Jahrhundert fru&#x0364;her genie&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en; au&#x017F;&#x017F;er die neuen Auf&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, welche mir die Religion giebt,<lb/>
und au&#x017F;&#x017F;er ta&#x0364;gliche neue Gnadenbewei&#x017F;e Gottes. Nein! wir ha-<lb/>
ben zu viel Gutes geno&#x017F;&#x017F;en, als daß uns im ho&#x0364;ch&#x017F;ten Alter noch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 3</fw><fw place="bottom" type="catch">etwas</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[181[211]/0218] Der 28te Maͤrz. Jch bitte, Herr! Gott Zebaoth! Dich nicht um langes Leben. Jm Gluͤcke Demuth, Muth in Noth: Das wolleſt du mir geben. Jn deiner Hand ſteht meine Zeit; Laß du mich nur Barmherzigkeit Vor dir im Tode finden! Je ſuͤndlicher ein Menſch iſt, deſto mehr pflegt er ſich irdiſche Schaͤtze zu wuͤnſchen, und unter dieſen ſtehet ein langes Le- ben faſt immer oben an. Ein Geiziger, der nicht einen Thaler verthun kan, ohne laͤcherlich dabei zu werden, wuͤnſcht ſich alle Guͤter der Erde; und ein Thor, der keine Stunde gut anzu- wenden weiß, verlanget das hoͤchſte Alter! Thoͤrigter Wunſch nach langem Leben, wandelt auch wol Klugen wie eine Laune an. Gleich als wenn es leicht waͤre, ſehr lange mit Anſtand und Vergnuͤgen zu leben! Nach dem vierzigſten Jahre meines Lebens giebt es beinahe nichts neues und reizendes mehr fuͤr mich. Die Erde hat ſich in Abſicht meiner erſchoͤpft, und alles Vergnuͤgen im Alter iſt nur eine Wiederkaͤuung, wofern ich kein Vergnuͤgen an Gott finde! Was ich im achzigſten, neunzigſten Jahre wuͤnſchen, hoffen und genieſſen koͤnte: das kan ich ja ein halb Jahrhundert fruͤher genieſ- ſen; auſſer die neuen Aufſchluͤſſe, welche mir die Religion giebt, und auſſer taͤgliche neue Gnadenbeweiſe Gottes. Nein! wir ha- ben zu viel Gutes genoſſen, als daß uns im hoͤchſten Alter noch etwas M 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/218
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 181[211]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/218>, abgerufen am 21.11.2024.