Der du voll Blut und Wunden Für uns am Kreuze starbst, Und unsern letzten Stunden Den größten Trost erwarbst; Der du dein theures Leben, Noch eh ich war, auch mir Zur Rettung hingegeben: Mein Heil! wie dank ich dir?
"Kan der, dessen Geschichte (sonderlich in der Paßionszeit) &q;uns die heilige Schrift erzählt, nichts als ein blosser &q;Mensch seyn? Welche Herrschaft über seine Leidenschaften! Wo &q;ist der Mensch, wo ist der Weise, der ohne Schwachheit, ohne &q;Eitelkeit handeln, leiden und sterben kan? Aber wo hatte Jesus &q;bei den Seinigen jene erhabne und reine Sittenlehre gelernt, die &q;Er allein durch seine Lehren und Exempel bewiesen hat? Der &q;Tod des Sokrates, der ruhig mit seinen Freunden philosophirte, &q;ist der sanfteste Tod, den man verlangen; der Tod Jesu, &q;der unter der Qual, beschimpft, verspottet, verflucht, vor ei- &q;nem ganzen Volk verschied, ist das Schrecklichste, was man &q;fürchten kan. Sokrat nahm den Giftbecher und segnete den, &q;der ihm denselben mit Thränen überreichte; Jesus, mitten unter &q;den schrecklichsten Martern, bat für seine grausamen Henker. &q;Warhaftig, wenn das Leben und der Tod Sokratis, das Leben &q;und der Tod eines Weisen ist, so ist das Leben und der Tod Jesu, &q;das Leben und der Tod eines Gottes. Sollen wir sagen, daß &q;die Geschichte des Evangelii blos zum Vergnügen erfunden &q;sey? -- Mein Freund, so erfindet man nicht, und die Thaten &q;Sokratis, woran kein Mensch zweifelt, sind lange nicht so ge- &q;wiß als die Thaten Jesu Christi. Niemals würden jüdische &q;Schriftsteller weder den Ton noch die Sittenlehre haben finden &q;können; und das Evangelium hat so grosse, so einleuchtende, so
voll-
M 2
Der 27te Maͤrz.
Der du voll Blut und Wunden Fuͤr uns am Kreuze ſtarbſt, Und unſern letzten Stunden Den groͤßten Troſt erwarbſt; Der du dein theures Leben, Noch eh ich war, auch mir Zur Rettung hingegeben: Mein Heil! wie dank ich dir?
„Kan der, deſſen Geſchichte (ſonderlich in der Paßionszeit) &q;uns die heilige Schrift erzaͤhlt, nichts als ein bloſſer &q;Menſch ſeyn? Welche Herrſchaft uͤber ſeine Leidenſchaften! Wo &q;iſt der Menſch, wo iſt der Weiſe, der ohne Schwachheit, ohne &q;Eitelkeit handeln, leiden und ſterben kan? Aber wo hatte Jeſus &q;bei den Seinigen jene erhabne und reine Sittenlehre gelernt, die &q;Er allein durch ſeine Lehren und Exempel bewieſen hat? Der &q;Tod des Sokrates, der ruhig mit ſeinen Freunden philoſophirte, &q;iſt der ſanfteſte Tod, den man verlangen; der Tod Jeſu, &q;der unter der Qual, beſchimpft, verſpottet, verflucht, vor ei- &q;nem ganzen Volk verſchied, iſt das Schrecklichſte, was man &q;fuͤrchten kan. Sokrat nahm den Giftbecher und ſegnete den, &q;der ihm denſelben mit Thraͤnen uͤberreichte; Jeſus, mitten unter &q;den ſchrecklichſten Martern, bat fuͤr ſeine grauſamen Henker. &q;Warhaftig, wenn das Leben und der Tod Sokratis, das Leben &q;und der Tod eines Weiſen iſt, ſo iſt das Leben und der Tod Jeſu, &q;das Leben und der Tod eines Gottes. Sollen wir ſagen, daß &q;die Geſchichte des Evangelii blos zum Vergnuͤgen erfunden &q;ſey? — Mein Freund, ſo erfindet man nicht, und die Thaten &q;Sokratis, woran kein Menſch zweifelt, ſind lange nicht ſo ge- &q;wiß als die Thaten Jeſu Chriſti. Niemals wuͤrden juͤdiſche &q;Schriftſteller weder den Ton noch die Sittenlehre haben finden &q;koͤnnen; und das Evangelium hat ſo groſſe, ſo einleuchtende, ſo
voll-
M 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0216"n="179[209]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 27<hirendition="#sup">te</hi> Maͤrz.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">D</hi>er du voll Blut und Wunden</l><lb/><l>Fuͤr uns am Kreuze ſtarbſt,</l><lb/><l>Und unſern letzten Stunden</l><lb/><l>Den groͤßten Troſt erwarbſt;</l><lb/><l>Der du dein theures Leben,</l><lb/><l>Noch eh ich war, auch mir</l><lb/><l>Zur Rettung hingegeben:</l><lb/><l>Mein Heil! wie dank ich dir?</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>„<hirendition="#in">K</hi>an der, deſſen Geſchichte (ſonderlich in der Paßionszeit)<lb/>&q;uns die heilige Schrift erzaͤhlt, nichts als ein bloſſer<lb/>&q;Menſch ſeyn? Welche Herrſchaft uͤber ſeine Leidenſchaften! Wo<lb/>&q;iſt der Menſch, wo iſt der Weiſe, der ohne Schwachheit, ohne<lb/>&q;Eitelkeit handeln, leiden und ſterben kan? Aber wo hatte Jeſus<lb/>&q;bei den Seinigen jene erhabne und reine Sittenlehre gelernt, die<lb/>&q;Er allein durch ſeine Lehren und Exempel bewieſen hat? Der<lb/>&q;Tod des Sokrates, der ruhig mit ſeinen Freunden philoſophirte,<lb/>&q;iſt der ſanfteſte Tod, den man verlangen; <hirendition="#fr">der Tod Jeſu,</hi><lb/>&q;der unter der Qual, beſchimpft, verſpottet, verflucht, vor ei-<lb/>&q;nem ganzen Volk verſchied, iſt das Schrecklichſte, was man<lb/>&q;fuͤrchten kan. Sokrat nahm den Giftbecher und ſegnete den,<lb/>&q;der ihm denſelben mit Thraͤnen uͤberreichte; Jeſus, mitten unter<lb/>&q;den ſchrecklichſten Martern, bat fuͤr ſeine grauſamen Henker.<lb/>&q;Warhaftig, wenn das Leben und der Tod Sokratis, das Leben<lb/>&q;und der Tod eines Weiſen iſt, ſo iſt das Leben und der Tod Jeſu,<lb/>&q;das Leben und der Tod eines Gottes. Sollen wir ſagen, daß<lb/>&q;die Geſchichte des Evangelii blos zum Vergnuͤgen erfunden<lb/>&q;ſey? — Mein Freund, ſo erfindet man nicht, und die Thaten<lb/>&q;Sokratis, woran kein Menſch zweifelt, ſind lange nicht ſo ge-<lb/>&q;wiß als die Thaten Jeſu Chriſti. Niemals wuͤrden juͤdiſche<lb/>&q;Schriftſteller weder den Ton noch die Sittenlehre haben finden<lb/>&q;koͤnnen; und das Evangelium hat ſo groſſe, ſo einleuchtende, ſo<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">voll-</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[179[209]/0216]
Der 27te Maͤrz.
Der du voll Blut und Wunden
Fuͤr uns am Kreuze ſtarbſt,
Und unſern letzten Stunden
Den groͤßten Troſt erwarbſt;
Der du dein theures Leben,
Noch eh ich war, auch mir
Zur Rettung hingegeben:
Mein Heil! wie dank ich dir?
„Kan der, deſſen Geſchichte (ſonderlich in der Paßionszeit)
&q;uns die heilige Schrift erzaͤhlt, nichts als ein bloſſer
&q;Menſch ſeyn? Welche Herrſchaft uͤber ſeine Leidenſchaften! Wo
&q;iſt der Menſch, wo iſt der Weiſe, der ohne Schwachheit, ohne
&q;Eitelkeit handeln, leiden und ſterben kan? Aber wo hatte Jeſus
&q;bei den Seinigen jene erhabne und reine Sittenlehre gelernt, die
&q;Er allein durch ſeine Lehren und Exempel bewieſen hat? Der
&q;Tod des Sokrates, der ruhig mit ſeinen Freunden philoſophirte,
&q;iſt der ſanfteſte Tod, den man verlangen; der Tod Jeſu,
&q;der unter der Qual, beſchimpft, verſpottet, verflucht, vor ei-
&q;nem ganzen Volk verſchied, iſt das Schrecklichſte, was man
&q;fuͤrchten kan. Sokrat nahm den Giftbecher und ſegnete den,
&q;der ihm denſelben mit Thraͤnen uͤberreichte; Jeſus, mitten unter
&q;den ſchrecklichſten Martern, bat fuͤr ſeine grauſamen Henker.
&q;Warhaftig, wenn das Leben und der Tod Sokratis, das Leben
&q;und der Tod eines Weiſen iſt, ſo iſt das Leben und der Tod Jeſu,
&q;das Leben und der Tod eines Gottes. Sollen wir ſagen, daß
&q;die Geſchichte des Evangelii blos zum Vergnuͤgen erfunden
&q;ſey? — Mein Freund, ſo erfindet man nicht, und die Thaten
&q;Sokratis, woran kein Menſch zweifelt, ſind lange nicht ſo ge-
&q;wiß als die Thaten Jeſu Chriſti. Niemals wuͤrden juͤdiſche
&q;Schriftſteller weder den Ton noch die Sittenlehre haben finden
&q;koͤnnen; und das Evangelium hat ſo groſſe, ſo einleuchtende, ſo
voll-
M 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 179[209]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/216>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.