Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 23te März.
Du neigst dein Haupt; es ist vollbracht;
Du ftirbst; die Erd' erschüttert:
Die Arbeit hab ich dir gemacht.
Herr! meine Seele zittert.
Was ist der Mensch, den du befreit?
O! wär ich doch ganz Dankbarkeit!
Herr! laß mich Gnade finden;
Und deine Liebe dringe mich,
Daß ich dich wieder lieb, und dich
Nie kreuzige mit Sünden!


An diesem Abend will ich das edle Betragen einiger we-
nigen bei dem Kreuze Jesu
bewundern, welche Muth
genug hatten, Christum auch am Kreuze zu verehren. Pilati
Weib scheint ein beßres Herz gehabt zu haben, als die andern
Grossen zu Jerusalem: aber sie war doch nicht unter dem Kreuze
Jesu, und hier will ich jetzt meine Freunde aufsuchen und ihnen
nachahmen.

Maria, zwar nur weinend: aber welcher Gefahr unterzog
sie sich nicht, sich öffentlich als Mutter desjenigen zu zeigen, wider
den fast alle Mächtige und ihre Sklaven aufgebracht waren:
Schwerlich hätte sie den Schritt gewagt, hätte sie nicht die Un-
schuld, Tugend und Göttlichkeit ihres Sohnes gekant. Und ihr
Zeugniß ist um desto bündiger, da sie ihn etliche dreißig Jahre
lang gekant hatte. Neben ihr stand der sanfte Johannes, dessen
Charakter nichts weniger als verwegen, sondern wie man aus sei-
nem Evangelio und aus seinen Briefen sieht, höchst zärtlich und
liebreich war. Er war der vertrautste Freund Jesu, und mußte
sehr von seiner Tugend und Gottheit überzeuget seyn, weil er der
einzige Jünger war, der sich unter die blutdürstige Tirannen des

Erlö-


Der 23te Maͤrz.
Du neigſt dein Haupt; es iſt vollbracht;
Du ftirbſt; die Erd’ erſchuͤttert:
Die Arbeit hab ich dir gemacht.
Herr! meine Seele zittert.
Was iſt der Menſch, den du befreit?
O! waͤr ich doch ganz Dankbarkeit!
Herr! laß mich Gnade finden;
Und deine Liebe dringe mich,
Daß ich dich wieder lieb, und dich
Nie kreuzige mit Suͤnden!


An dieſem Abend will ich das edle Betragen einiger we-
nigen bei dem Kreuze Jeſu
bewundern, welche Muth
genug hatten, Chriſtum auch am Kreuze zu verehren. Pilati
Weib ſcheint ein beßres Herz gehabt zu haben, als die andern
Groſſen zu Jeruſalem: aber ſie war doch nicht unter dem Kreuze
Jeſu, und hier will ich jetzt meine Freunde aufſuchen und ihnen
nachahmen.

Maria, zwar nur weinend: aber welcher Gefahr unterzog
ſie ſich nicht, ſich oͤffentlich als Mutter desjenigen zu zeigen, wider
den faſt alle Maͤchtige und ihre Sklaven aufgebracht waren:
Schwerlich haͤtte ſie den Schritt gewagt, haͤtte ſie nicht die Un-
ſchuld, Tugend und Goͤttlichkeit ihres Sohnes gekant. Und ihr
Zeugniß iſt um deſto buͤndiger, da ſie ihn etliche dreißig Jahre
lang gekant hatte. Neben ihr ſtand der ſanfte Johannes, deſſen
Charakter nichts weniger als verwegen, ſondern wie man aus ſei-
nem Evangelio und aus ſeinen Briefen ſieht, hoͤchſt zaͤrtlich und
liebreich war. Er war der vertrautſte Freund Jeſu, und mußte
ſehr von ſeiner Tugend und Gottheit uͤberzeuget ſeyn, weil er der
einzige Juͤnger war, der ſich unter die blutduͤrſtige Tirannen des

Erloͤ-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0208" n="171[201]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 23<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">D</hi>u neig&#x017F;t dein Haupt; es i&#x017F;t vollbracht;</l><lb/>
              <l>Du ftirb&#x017F;t; die Erd&#x2019; er&#x017F;chu&#x0364;ttert:</l><lb/>
              <l>Die Arbeit hab ich dir gemacht.</l><lb/>
              <l>Herr! meine Seele zittert.</l><lb/>
              <l>Was i&#x017F;t der Men&#x017F;ch, den du befreit?</l><lb/>
              <l>O! wa&#x0364;r ich doch ganz Dankbarkeit!</l><lb/>
              <l>Herr! laß mich Gnade finden;</l><lb/>
              <l>Und deine Liebe dringe mich,</l><lb/>
              <l>Daß ich dich wieder lieb, und dich</l><lb/>
              <l>Nie kreuzige mit Su&#x0364;nden!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">A</hi>n die&#x017F;em Abend will ich <hi rendition="#fr">das edle Betragen einiger we-<lb/>
nigen bei dem Kreuze Je&#x017F;u</hi> bewundern, welche Muth<lb/>
genug hatten, Chri&#x017F;tum auch am Kreuze zu verehren. Pilati<lb/>
Weib &#x017F;cheint ein beßres Herz gehabt zu haben, als die andern<lb/>
Gro&#x017F;&#x017F;en zu Jeru&#x017F;alem: aber &#x017F;ie war doch nicht unter dem Kreuze<lb/>
Je&#x017F;u, und hier will ich jetzt meine Freunde auf&#x017F;uchen und ihnen<lb/>
nachahmen.</p><lb/>
            <p>Maria, zwar nur weinend: aber welcher Gefahr unterzog<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich nicht, &#x017F;ich o&#x0364;ffentlich als Mutter desjenigen zu zeigen, wider<lb/>
den fa&#x017F;t alle Ma&#x0364;chtige und ihre Sklaven aufgebracht waren:<lb/>
Schwerlich ha&#x0364;tte &#x017F;ie den Schritt gewagt, ha&#x0364;tte &#x017F;ie nicht die Un-<lb/>
&#x017F;chuld, Tugend und Go&#x0364;ttlichkeit ihres Sohnes gekant. Und ihr<lb/>
Zeugniß i&#x017F;t um de&#x017F;to bu&#x0364;ndiger, da &#x017F;ie ihn etliche dreißig Jahre<lb/>
lang gekant hatte. Neben ihr &#x017F;tand der &#x017F;anfte Johannes, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Charakter nichts weniger als verwegen, &#x017F;ondern wie man aus &#x017F;ei-<lb/>
nem Evangelio und aus &#x017F;einen Briefen &#x017F;ieht, ho&#x0364;ch&#x017F;t za&#x0364;rtlich und<lb/>
liebreich war. Er war der vertraut&#x017F;te Freund Je&#x017F;u, und mußte<lb/>
&#x017F;ehr von &#x017F;einer Tugend und Gottheit u&#x0364;berzeuget &#x017F;eyn, weil er der<lb/>
einzige Ju&#x0364;nger war, der &#x017F;ich unter die blutdu&#x0364;r&#x017F;tige Tirannen des<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Erlo&#x0364;-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171[201]/0208] Der 23te Maͤrz. Du neigſt dein Haupt; es iſt vollbracht; Du ftirbſt; die Erd’ erſchuͤttert: Die Arbeit hab ich dir gemacht. Herr! meine Seele zittert. Was iſt der Menſch, den du befreit? O! waͤr ich doch ganz Dankbarkeit! Herr! laß mich Gnade finden; Und deine Liebe dringe mich, Daß ich dich wieder lieb, und dich Nie kreuzige mit Suͤnden! An dieſem Abend will ich das edle Betragen einiger we- nigen bei dem Kreuze Jeſu bewundern, welche Muth genug hatten, Chriſtum auch am Kreuze zu verehren. Pilati Weib ſcheint ein beßres Herz gehabt zu haben, als die andern Groſſen zu Jeruſalem: aber ſie war doch nicht unter dem Kreuze Jeſu, und hier will ich jetzt meine Freunde aufſuchen und ihnen nachahmen. Maria, zwar nur weinend: aber welcher Gefahr unterzog ſie ſich nicht, ſich oͤffentlich als Mutter desjenigen zu zeigen, wider den faſt alle Maͤchtige und ihre Sklaven aufgebracht waren: Schwerlich haͤtte ſie den Schritt gewagt, haͤtte ſie nicht die Un- ſchuld, Tugend und Goͤttlichkeit ihres Sohnes gekant. Und ihr Zeugniß iſt um deſto buͤndiger, da ſie ihn etliche dreißig Jahre lang gekant hatte. Neben ihr ſtand der ſanfte Johannes, deſſen Charakter nichts weniger als verwegen, ſondern wie man aus ſei- nem Evangelio und aus ſeinen Briefen ſieht, hoͤchſt zaͤrtlich und liebreich war. Er war der vertrautſte Freund Jeſu, und mußte ſehr von ſeiner Tugend und Gottheit uͤberzeuget ſeyn, weil er der einzige Juͤnger war, der ſich unter die blutduͤrſtige Tirannen des Erloͤ-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/208
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 171[201]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/208>, abgerufen am 13.06.2024.