Entblößt von allem Reize, Der Menschen wohlgefällt, Hingst du an deinem Kreuze, Ein Fluch vor aller Welt. Dich flohen deine Freunde; Du warst der Leute Spott; Dich höhnten deine Feinde! Wo ist denn nun sein Gott?
Wende ich bei der Leidensgeschichte die Augen von meinem Er- löser weg, so sehe ich übrigens fast nichts als Bosheit und Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten des Gottmenschen wird durch das Verhalten aller übrigen Han- delnden erhöhet, wie das Licht eines Gemäldes durch scharfe Schatten. Nicht ohne weise Absichten hat uns die heilige Schrift die Namen und Handlungen einiger damaligen Sünder aufbe- halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men- schen beim Leiden Jesu, zu meiner Warnung betrachten.
Das Volk, welches so oft von Jesu war gesättiget, gehei- let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei sei- nem Einzuge in Jerusalem, ein ehrfurchtsvolles Hosianna zurief: das schrie nun: kreuzige ihn! sein Blut komm über uns und über unsre Kinder! Aber noch mehr! Die Jünger des Herrn, welche so viele Beweise der Göttlichkeit ihres Meisters gesehen, so vielen himlischen Unterricht gehöret hatten, zerrissen die Bande der Bluts - und Gemüthsfreundschaft, vergassen ihrer hohen Ver- bindlichkeit, und verliessen ihren zärtlichsten Freund in der größten Gefahr. Selbst der kühne Petrus, welcher sich feierlich anhei- schig gemacht hatte, mit Jesu in den Tod zu gehen, war verwe-
gen
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Der 22te Maͤrz.
Entbloͤßt von allem Reize, Der Menſchen wohlgefaͤllt, Hingſt du an deinem Kreuze, Ein Fluch vor aller Welt. Dich flohen deine Freunde; Du warſt der Leute Spott; Dich hoͤhnten deine Feinde! Wo iſt denn nun ſein Gott?
Wende ich bei der Leidensgeſchichte die Augen von meinem Er- loͤſer weg, ſo ſehe ich uͤbrigens faſt nichts als Bosheit und Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten des Gottmenſchen wird durch das Verhalten aller uͤbrigen Han- delnden erhoͤhet, wie das Licht eines Gemaͤldes durch ſcharfe Schatten. Nicht ohne weiſe Abſichten hat uns die heilige Schrift die Namen und Handlungen einiger damaligen Suͤnder aufbe- halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men- ſchen beim Leiden Jeſu, zu meiner Warnung betrachten.
Das Volk, welches ſo oft von Jeſu war geſaͤttiget, gehei- let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei ſei- nem Einzuge in Jeruſalem, ein ehrfurchtsvolles Hoſianna zurief: das ſchrie nun: kreuzige ihn! ſein Blut komm uͤber uns und uͤber unſre Kinder! Aber noch mehr! Die Juͤnger des Herrn, welche ſo viele Beweiſe der Goͤttlichkeit ihres Meiſters geſehen, ſo vielen himliſchen Unterricht gehoͤret hatten, zerriſſen die Bande der Bluts - und Gemuͤthsfreundſchaft, vergaſſen ihrer hohen Ver- bindlichkeit, und verlieſſen ihren zaͤrtlichſten Freund in der groͤßten Gefahr. Selbſt der kuͤhne Petrus, welcher ſich feierlich anhei- ſchig gemacht hatte, mit Jeſu in den Tod zu gehen, war verwe-
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[169[199]/0206]
Der 22te Maͤrz.
Entbloͤßt von allem Reize,
Der Menſchen wohlgefaͤllt,
Hingſt du an deinem Kreuze,
Ein Fluch vor aller Welt.
Dich flohen deine Freunde;
Du warſt der Leute Spott;
Dich hoͤhnten deine Feinde!
Wo iſt denn nun ſein Gott?
Wende ich bei der Leidensgeſchichte die Augen von meinem Er-
loͤſer weg, ſo ſehe ich uͤbrigens faſt nichts als Bosheit und
Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten
des Gottmenſchen wird durch das Verhalten aller uͤbrigen Han-
delnden erhoͤhet, wie das Licht eines Gemaͤldes durch ſcharfe
Schatten. Nicht ohne weiſe Abſichten hat uns die heilige Schrift
die Namen und Handlungen einiger damaligen Suͤnder aufbe-
halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men-
ſchen beim Leiden Jeſu, zu meiner Warnung betrachten.
Das Volk, welches ſo oft von Jeſu war geſaͤttiget, gehei-
let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei ſei-
nem Einzuge in Jeruſalem, ein ehrfurchtsvolles Hoſianna zurief:
das ſchrie nun: kreuzige ihn! ſein Blut komm uͤber uns und uͤber
unſre Kinder! Aber noch mehr! Die Juͤnger des Herrn, welche
ſo viele Beweiſe der Goͤttlichkeit ihres Meiſters geſehen, ſo vielen
himliſchen Unterricht gehoͤret hatten, zerriſſen die Bande der
Bluts - und Gemuͤthsfreundſchaft, vergaſſen ihrer hohen Ver-
bindlichkeit, und verlieſſen ihren zaͤrtlichſten Freund in der groͤßten
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 169[199]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/206>, abgerufen am 25.11.2024.
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