Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 22te März.
Entblößt von allem Reize,
Der Menschen wohlgefällt,
Hingst du an deinem Kreuze,
Ein Fluch vor aller Welt.
Dich flohen deine Freunde;
Du warst der Leute Spott;
Dich höhnten deine Feinde!
Wo ist denn nun sein Gott?


Wende ich bei der Leidensgeschichte die Augen von meinem Er-
löser weg, so sehe ich übrigens fast nichts als Bosheit und
Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten
des Gottmenschen wird durch das Verhalten aller übrigen Han-
delnden erhöhet, wie das Licht eines Gemäldes durch scharfe
Schatten. Nicht ohne weise Absichten hat uns die heilige Schrift
die Namen und Handlungen einiger damaligen Sünder aufbe-
halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men-
schen beim Leiden Jesu,
zu meiner Warnung betrachten.

Das Volk, welches so oft von Jesu war gesättiget, gehei-
let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei sei-
nem Einzuge in Jerusalem, ein ehrfurchtsvolles Hosianna zurief:
das schrie nun: kreuzige ihn! sein Blut komm über uns und über
unsre Kinder! Aber noch mehr! Die Jünger des Herrn, welche
so viele Beweise der Göttlichkeit ihres Meisters gesehen, so vielen
himlischen Unterricht gehöret hatten, zerrissen die Bande der
Bluts - und Gemüthsfreundschaft, vergassen ihrer hohen Ver-
bindlichkeit, und verliessen ihren zärtlichsten Freund in der größten
Gefahr. Selbst der kühne Petrus, welcher sich feierlich anhei-
schig gemacht hatte, mit Jesu in den Tod zu gehen, war verwe-

gen
L 5


Der 22te Maͤrz.
Entbloͤßt von allem Reize,
Der Menſchen wohlgefaͤllt,
Hingſt du an deinem Kreuze,
Ein Fluch vor aller Welt.
Dich flohen deine Freunde;
Du warſt der Leute Spott;
Dich hoͤhnten deine Feinde!
Wo iſt denn nun ſein Gott?


Wende ich bei der Leidensgeſchichte die Augen von meinem Er-
loͤſer weg, ſo ſehe ich uͤbrigens faſt nichts als Bosheit und
Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten
des Gottmenſchen wird durch das Verhalten aller uͤbrigen Han-
delnden erhoͤhet, wie das Licht eines Gemaͤldes durch ſcharfe
Schatten. Nicht ohne weiſe Abſichten hat uns die heilige Schrift
die Namen und Handlungen einiger damaligen Suͤnder aufbe-
halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men-
ſchen beim Leiden Jeſu,
zu meiner Warnung betrachten.

Das Volk, welches ſo oft von Jeſu war geſaͤttiget, gehei-
let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei ſei-
nem Einzuge in Jeruſalem, ein ehrfurchtsvolles Hoſianna zurief:
das ſchrie nun: kreuzige ihn! ſein Blut komm uͤber uns und uͤber
unſre Kinder! Aber noch mehr! Die Juͤnger des Herrn, welche
ſo viele Beweiſe der Goͤttlichkeit ihres Meiſters geſehen, ſo vielen
himliſchen Unterricht gehoͤret hatten, zerriſſen die Bande der
Bluts - und Gemuͤthsfreundſchaft, vergaſſen ihrer hohen Ver-
bindlichkeit, und verlieſſen ihren zaͤrtlichſten Freund in der groͤßten
Gefahr. Selbſt der kuͤhne Petrus, welcher ſich feierlich anhei-
ſchig gemacht hatte, mit Jeſu in den Tod zu gehen, war verwe-

gen
L 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0206" n="169[199]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 22<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">E</hi>ntblo&#x0364;ßt von allem Reize,</l><lb/>
              <l>Der Men&#x017F;chen wohlgefa&#x0364;llt,</l><lb/>
              <l>Hing&#x017F;t du an deinem Kreuze,</l><lb/>
              <l>Ein Fluch vor aller Welt.</l><lb/>
              <l>Dich flohen deine Freunde;</l><lb/>
              <l>Du war&#x017F;t der Leute Spott;</l><lb/>
              <l>Dich ho&#x0364;hnten deine Feinde!</l><lb/>
              <l>Wo i&#x017F;t denn nun &#x017F;ein Gott?</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>ende ich bei der Leidensge&#x017F;chichte die Augen von meinem Er-<lb/>
lo&#x0364;&#x017F;er weg, &#x017F;o &#x017F;ehe ich u&#x0364;brigens fa&#x017F;t nichts als Bosheit und<lb/>
Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten<lb/>
des Gottmen&#x017F;chen wird durch das Verhalten aller u&#x0364;brigen Han-<lb/>
delnden erho&#x0364;het, wie das Licht eines Gema&#x0364;ldes durch &#x017F;charfe<lb/>
Schatten. Nicht ohne wei&#x017F;e Ab&#x017F;ichten hat uns die heilige Schrift<lb/>
die Namen und Handlungen einiger damaligen Su&#x0364;nder aufbe-<lb/>
halten. Jch will jetzt <hi rendition="#fr">das unedle Betragen vieler Men-<lb/>
&#x017F;chen beim Leiden Je&#x017F;u,</hi> zu meiner Warnung betrachten.</p><lb/>
            <p>Das Volk, welches &#x017F;o oft von Je&#x017F;u war ge&#x017F;a&#x0364;ttiget, gehei-<lb/>
let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei &#x017F;ei-<lb/>
nem Einzuge in Jeru&#x017F;alem, ein ehrfurchtsvolles Ho&#x017F;ianna zurief:<lb/>
das &#x017F;chrie nun: kreuzige ihn! &#x017F;ein Blut komm u&#x0364;ber uns und u&#x0364;ber<lb/>
un&#x017F;re Kinder! Aber noch mehr! Die Ju&#x0364;nger des Herrn, welche<lb/>
&#x017F;o viele Bewei&#x017F;e der Go&#x0364;ttlichkeit ihres Mei&#x017F;ters ge&#x017F;ehen, &#x017F;o vielen<lb/>
himli&#x017F;chen Unterricht geho&#x0364;ret hatten, zerri&#x017F;&#x017F;en die Bande der<lb/>
Bluts - und Gemu&#x0364;thsfreund&#x017F;chaft, verga&#x017F;&#x017F;en ihrer hohen Ver-<lb/>
bindlichkeit, und verlie&#x017F;&#x017F;en ihren za&#x0364;rtlich&#x017F;ten Freund in der gro&#x0364;ßten<lb/>
Gefahr. Selb&#x017F;t der ku&#x0364;hne Petrus, welcher &#x017F;ich feierlich anhei-<lb/>
&#x017F;chig gemacht hatte, mit Je&#x017F;u in den Tod zu gehen, war verwe-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 5</fw><fw place="bottom" type="catch">gen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169[199]/0206] Der 22te Maͤrz. Entbloͤßt von allem Reize, Der Menſchen wohlgefaͤllt, Hingſt du an deinem Kreuze, Ein Fluch vor aller Welt. Dich flohen deine Freunde; Du warſt der Leute Spott; Dich hoͤhnten deine Feinde! Wo iſt denn nun ſein Gott? Wende ich bei der Leidensgeſchichte die Augen von meinem Er- loͤſer weg, ſo ſehe ich uͤbrigens faſt nichts als Bosheit und Thorheit. Aber auch hievon kan ich lernen. Das Verhalten des Gottmenſchen wird durch das Verhalten aller uͤbrigen Han- delnden erhoͤhet, wie das Licht eines Gemaͤldes durch ſcharfe Schatten. Nicht ohne weiſe Abſichten hat uns die heilige Schrift die Namen und Handlungen einiger damaligen Suͤnder aufbe- halten. Jch will jetzt das unedle Betragen vieler Men- ſchen beim Leiden Jeſu, zu meiner Warnung betrachten. Das Volk, welches ſo oft von Jeſu war geſaͤttiget, gehei- let und unterrichtet worden; das ihm wenige Tage zuvor, bei ſei- nem Einzuge in Jeruſalem, ein ehrfurchtsvolles Hoſianna zurief: das ſchrie nun: kreuzige ihn! ſein Blut komm uͤber uns und uͤber unſre Kinder! Aber noch mehr! Die Juͤnger des Herrn, welche ſo viele Beweiſe der Goͤttlichkeit ihres Meiſters geſehen, ſo vielen himliſchen Unterricht gehoͤret hatten, zerriſſen die Bande der Bluts - und Gemuͤthsfreundſchaft, vergaſſen ihrer hohen Ver- bindlichkeit, und verlieſſen ihren zaͤrtlichſten Freund in der groͤßten Gefahr. Selbſt der kuͤhne Petrus, welcher ſich feierlich anhei- ſchig gemacht hatte, mit Jeſu in den Tod zu gehen, war verwe- gen L 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/206
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 169[199]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/206>, abgerufen am 25.11.2024.