Jedoch, es ist nicht blos der gemeine Mann, welcher Schatten und Wesen in Religionswahrheiten verwechselt. Zu sinn- liche Begriffe schleichen sich bei jedem leicht ein, zumal wenn Er- ziehung und Gewohnheit dazu kommen. Glaubt nicht mancher, daß ein Gebet auf Knien erhörlicher sey, als wenn man stehet oder sitzt? Da doch die Stellung des Leibes willkührlich ist, und bei einem wahren Anbeter Gottes von selbst ehrerbietig seyn wird. Eine weinerliche Stimme, gerungne Hände, Fasten, Verdre- hung der Augen, kurz alles körperliche ist untadelhaft, wenn es eine natürliche Folge feuriger Andacht und nichts studirtes ist. Setzt man aber die Hauptsache darin, oder hält es für etwas verdienstliches beim Gebet, so schändet man die Würde des Chri- stenthums. Eben so niedrig ist die Einbildung: daß sich der Werth eines Gebets verhalte, wie seine Länge; da doch Jesus für viele Worte gewarnet hat, und uns im neuen Testament kurze Gebete zum Muster aufzeichnen ließ.
Sind wir überzeugt, daß Gott allwissend, heilig, allgegen- wärtig und gütig ist; und daß er mehr unsern Dank verlange, als daß wir nur immer um schleunige Hülfe bitten: so werden wir in Jesu Namen stets erhörlich beten, die kleinen Verzierun- gen und Stellungen beim Gebet mögen beschaffen seyn, wie sie wollen. Mein Heiland blickte beim Hephata gen Himmel; der busfertige Zöllner zur Erde, und Gott erhörte ihren Blick. O! er verstehet auch jetzt meinen innersten Gedanken, ohne daß ich ihn mit Worten aussprechen darf. Für feurige Andacht sind alle Sprachen zu arm, alle Ceremonien zu weitläuftig.
Geliebter, und doch unendlich liebenswertherer Gott! Sieh auf mein zu dir gerichtetes Herz! Es soll mehr beten als mein Mund. Ich fühle den Dank, den ich dir jetzt bringen solte: aber er ist mir unaussprechlich. Gott! -- ich! -- in der Ewigkeit!
Der
Der 2te Maͤrz.
Jedoch, es iſt nicht blos der gemeine Mann, welcher Schatten und Weſen in Religionswahrheiten verwechſelt. Zu ſinn- liche Begriffe ſchleichen ſich bei jedem leicht ein, zumal wenn Er- ziehung und Gewohnheit dazu kommen. Glaubt nicht mancher, daß ein Gebet auf Knien erhoͤrlicher ſey, als wenn man ſtehet oder ſitzt? Da doch die Stellung des Leibes willkuͤhrlich iſt, und bei einem wahren Anbeter Gottes von ſelbſt ehrerbietig ſeyn wird. Eine weinerliche Stimme, gerungne Haͤnde, Faſten, Verdre- hung der Augen, kurz alles koͤrperliche iſt untadelhaft, wenn es eine natuͤrliche Folge feuriger Andacht und nichts ſtudirtes iſt. Setzt man aber die Hauptſache darin, oder haͤlt es fuͤr etwas verdienſtliches beim Gebet, ſo ſchaͤndet man die Wuͤrde des Chri- ſtenthums. Eben ſo niedrig iſt die Einbildung: daß ſich der Werth eines Gebets verhalte, wie ſeine Laͤnge; da doch Jeſus fuͤr viele Worte gewarnet hat, und uns im neuen Teſtament kurze Gebete zum Muſter aufzeichnen ließ.
Sind wir uͤberzeugt, daß Gott allwiſſend, heilig, allgegen- waͤrtig und guͤtig iſt; und daß er mehr unſern Dank verlange, als daß wir nur immer um ſchleunige Huͤlfe bitten: ſo werden wir in Jeſu Namen ſtets erhoͤrlich beten, die kleinen Verzierun- gen und Stellungen beim Gebet moͤgen beſchaffen ſeyn, wie ſie wollen. Mein Heiland blickte beim Hephata gen Himmel; der busfertige Zoͤllner zur Erde, und Gott erhoͤrte ihren Blick. O! er verſtehet auch jetzt meinen innerſten Gedanken, ohne daß ich ihn mit Worten ausſprechen darf. Fuͤr feurige Andacht ſind alle Sprachen zu arm, alle Ceremonien zu weitlaͤuftig.
Geliebter, und doch unendlich liebenswertherer Gott! Sieh auf mein zu dir gerichtetes Herz! Es ſoll mehr beten als mein Mund. Ich fuͤhle den Dank, den ich dir jetzt bringen ſolte: aber er iſt mir unausſprechlich. Gott! — ich! — in der Ewigkeit!
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Der 2te Maͤrz.
Jedoch, es iſt nicht blos der gemeine Mann, welcher
Schatten und Weſen in Religionswahrheiten verwechſelt. Zu ſinn-
liche Begriffe ſchleichen ſich bei jedem leicht ein, zumal wenn Er-
ziehung und Gewohnheit dazu kommen. Glaubt nicht mancher,
daß ein Gebet auf Knien erhoͤrlicher ſey, als wenn man ſtehet
oder ſitzt? Da doch die Stellung des Leibes willkuͤhrlich iſt, und
bei einem wahren Anbeter Gottes von ſelbſt ehrerbietig ſeyn wird.
Eine weinerliche Stimme, gerungne Haͤnde, Faſten, Verdre-
hung der Augen, kurz alles koͤrperliche iſt untadelhaft, wenn es
eine natuͤrliche Folge feuriger Andacht und nichts ſtudirtes iſt.
Setzt man aber die Hauptſache darin, oder haͤlt es fuͤr etwas
verdienſtliches beim Gebet, ſo ſchaͤndet man die Wuͤrde des Chri-
ſtenthums. Eben ſo niedrig iſt die Einbildung: daß ſich der
Werth eines Gebets verhalte, wie ſeine Laͤnge; da doch Jeſus
fuͤr viele Worte gewarnet hat, und uns im neuen Teſtament
kurze Gebete zum Muſter aufzeichnen ließ.
Sind wir uͤberzeugt, daß Gott allwiſſend, heilig, allgegen-
waͤrtig und guͤtig iſt; und daß er mehr unſern Dank verlange,
als daß wir nur immer um ſchleunige Huͤlfe bitten: ſo werden
wir in Jeſu Namen ſtets erhoͤrlich beten, die kleinen Verzierun-
gen und Stellungen beim Gebet moͤgen beſchaffen ſeyn, wie ſie
wollen. Mein Heiland blickte beim Hephata gen Himmel; der
busfertige Zoͤllner zur Erde, und Gott erhoͤrte ihren Blick. O!
er verſtehet auch jetzt meinen innerſten Gedanken, ohne daß ich
ihn mit Worten ausſprechen darf. Fuͤr feurige Andacht ſind
alle Sprachen zu arm, alle Ceremonien zu weitlaͤuftig.
Geliebter, und doch unendlich liebenswertherer Gott! Sieh
auf mein zu dir gerichtetes Herz! Es ſoll mehr beten als mein
Mund. Ich fuͤhle den Dank, den ich dir jetzt bringen ſolte:
aber er iſt mir unausſprechlich. Gott! — ich! — in der
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 130[160]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/167>, abgerufen am 23.11.2024.
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