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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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zur zweiten Auflage.

Wie aber? wenn der noch zu wenig ausgebreitete Ge-
schmack an den Werken der Natur, wenn der eine solche
Abendbetrachtung zu unmodisch fände? -- Nun dann
will ich jetzt versuchen, ob ich noch einen oder den andern
meiner Leser zu Naturbetrachtungen ermuntern kan. Ich
besorge sonst, daß verschiedne Unterhaltungen, sonderlich
im andern Theil dieses Buchs manche unbillige Censur
erfahren werden.

Ich will aber kein Strafprediger seyn, und jedem ent-
gegen poltern, dessen Erbauung aus andern Quellen ge-
schöpfet wird; oder der keine Musse hat, keine Gelegenheit,
keine vorläufige Kenntnisse -- Jedoch, das sind eben die
eitlen Ausflüchte, welche ich gerne benehmen mögte, um
recht viele Beobachter der Schöpfung anzuwerben.

Ich will aus dem weitläuftigen Reich der Kreaturen
nur bei einigen wenigen stehen bleiben. Jene gemeine,
verachtete und für vogelfrei erklärte Geschöpfe, die wir
(auf unsre Verantwortung!) um ihrer Kenntniß über-
hoben zu seyn, mit dem Namen des Ungeziefers belegen,
würden uns die Erde verschönern, wenn wir sie mensch-
licher, das heißt mit mehrerm Nachdenken betrachteten.
Keine Gattung der Thiere auf Erden hat so viel neues,
schönes und zum Erstaunen hinreissendes, als die Insekten;
vermuthlich, weil der Schöpfer vorher sah, daß wir sonst
gar nicht auf sie achten würden. Je leichter ein Thier
unserer Beobachtung entwischt: desto bunter ward gemei-
niglich seine Livrei, um unsre Neugier zu erregen. Die
Tracht der Vögel ist demnach staatlicher, als es die Haut
der vierfüßigen Thiere ist. Und nimt man den Pfau (der
doch auch selten ist) aus: so kan man es ziemlich sicher zur
Regel machen: daß die Vögel desto schöner sind, je wilder
sie vor uns fliehen. So auch bei den Insekten: die ge-
meine Stubenfliege hat das einfärbigste Kleid.

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zur zweiten Auflage.

Wie aber? wenn der noch zu wenig ausgebreitete Ge-
ſchmack an den Werken der Natur, wenn der eine ſolche
Abendbetrachtung zu unmodiſch faͤnde? — Nun dann
will ich jetzt verſuchen, ob ich noch einen oder den andern
meiner Leſer zu Naturbetrachtungen ermuntern kan. Ich
beſorge ſonſt, daß verſchiedne Unterhaltungen, ſonderlich
im andern Theil dieſes Buchs manche unbillige Cenſur
erfahren werden.

Ich will aber kein Strafprediger ſeyn, und jedem ent-
gegen poltern, deſſen Erbauung aus andern Quellen ge-
ſchoͤpfet wird; oder der keine Muſſe hat, keine Gelegenheit,
keine vorlaͤufige Kenntniſſe — Jedoch, das ſind eben die
eitlen Ausfluͤchte, welche ich gerne benehmen moͤgte, um
recht viele Beobachter der Schoͤpfung anzuwerben.

Ich will aus dem weitlaͤuftigen Reich der Kreaturen
nur bei einigen wenigen ſtehen bleiben. Jene gemeine,
verachtete und fuͤr vogelfrei erklaͤrte Geſchoͤpfe, die wir
(auf unſre Verantwortung!) um ihrer Kenntniß uͤber-
hoben zu ſeyn, mit dem Namen des Ungeziefers belegen,
wuͤrden uns die Erde verſchoͤnern, wenn wir ſie menſch-
licher, das heißt mit mehrerm Nachdenken betrachteten.
Keine Gattung der Thiere auf Erden hat ſo viel neues,
ſchoͤnes und zum Erſtaunen hinreiſſendes, als die Inſekten;
vermuthlich, weil der Schoͤpfer vorher ſah, daß wir ſonſt
gar nicht auf ſie achten wuͤrden. Je leichter ein Thier
unſerer Beobachtung entwiſcht: deſto bunter ward gemei-
niglich ſeine Livrei, um unſre Neugier zu erregen. Die
Tracht der Voͤgel iſt demnach ſtaatlicher, als es die Haut
der vierfuͤßigen Thiere iſt. Und nimt man den Pfau (der
doch auch ſelten iſt) aus: ſo kan man es ziemlich ſicher zur
Regel machen: daß die Voͤgel deſto ſchoͤner ſind, je wilder
ſie vor uns fliehen. So auch bei den Inſekten: die ge-
meine Stubenfliege hat das einfaͤrbigſte Kleid.

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[9/0016] zur zweiten Auflage. Wie aber? wenn der noch zu wenig ausgebreitete Ge- ſchmack an den Werken der Natur, wenn der eine ſolche Abendbetrachtung zu unmodiſch faͤnde? — Nun dann will ich jetzt verſuchen, ob ich noch einen oder den andern meiner Leſer zu Naturbetrachtungen ermuntern kan. Ich beſorge ſonſt, daß verſchiedne Unterhaltungen, ſonderlich im andern Theil dieſes Buchs manche unbillige Cenſur erfahren werden. Ich will aber kein Strafprediger ſeyn, und jedem ent- gegen poltern, deſſen Erbauung aus andern Quellen ge- ſchoͤpfet wird; oder der keine Muſſe hat, keine Gelegenheit, keine vorlaͤufige Kenntniſſe — Jedoch, das ſind eben die eitlen Ausfluͤchte, welche ich gerne benehmen moͤgte, um recht viele Beobachter der Schoͤpfung anzuwerben. Ich will aus dem weitlaͤuftigen Reich der Kreaturen nur bei einigen wenigen ſtehen bleiben. Jene gemeine, verachtete und fuͤr vogelfrei erklaͤrte Geſchoͤpfe, die wir (auf unſre Verantwortung!) um ihrer Kenntniß uͤber- hoben zu ſeyn, mit dem Namen des Ungeziefers belegen, wuͤrden uns die Erde verſchoͤnern, wenn wir ſie menſch- licher, das heißt mit mehrerm Nachdenken betrachteten. Keine Gattung der Thiere auf Erden hat ſo viel neues, ſchoͤnes und zum Erſtaunen hinreiſſendes, als die Inſekten; vermuthlich, weil der Schoͤpfer vorher ſah, daß wir ſonſt gar nicht auf ſie achten wuͤrden. Je leichter ein Thier unſerer Beobachtung entwiſcht: deſto bunter ward gemei- niglich ſeine Livrei, um unſre Neugier zu erregen. Die Tracht der Voͤgel iſt demnach ſtaatlicher, als es die Haut der vierfuͤßigen Thiere iſt. Und nimt man den Pfau (der doch auch ſelten iſt) aus: ſo kan man es ziemlich ſicher zur Regel machen: daß die Voͤgel deſto ſchoͤner ſind, je wilder ſie vor uns fliehen. So auch bei den Inſekten: die ge- meine Stubenfliege hat das einfaͤrbigſte Kleid. Laſſet a 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/16>, abgerufen am 24.11.2024.