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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 24te Februar.
machen: so behalten die Träume doch noch immer einen grossen
Nutzen zur Selbsterkentniß.

Sie entdecken uns nicht selten wer wir sind. Was das
schlummernde Gewissen vertuscht, oder undeutlich entwirft, das
schildert uns der offenherzige Traum. Es giebt gewisse geheime
Geschwüre unsers Herzens, welche wir wachend nicht bemerken,
oder bemerken wollen. Die Seele aber legt im Traum alle Ver-
stellung ab, und stellet sich in ihrer wahren Bildung dar. Dem
Geizigen wird schwerlich träumen, daß er seine Schätze mit Freu-
den verschwelge; der Rachgierige segnet seinen Feind nicht, und
der Unzüchtige wird auch träumend kein Joseph. Eine Thorheit
oder ein Laster im Traume begangen, giebt eine starke Vermuthung,
daß unsre Seele sich auch wachend leicht dazu entschlösse, wenn sie
ungesehen und ohne Zwang handeln könte. Kanst du im Traum
deinen Wohlthäter betriegen, deinen Feind ermorden, über heilige
Wahrheiten spotten: so untersuch genau, wozu du von diesen Freveln
auch wachend fähig wärst. Findest du, daß deine Einbildungs-
kraft nur gaukelte, und daß deine Seele nur nachspielte, was sie
von andern gehört oder gesehen hatte: so freue dich und gib Gott
die Ehre, daß aus deinem Herzen der Same zu diesen Lastern aus-
gerottet ist. Ein solcher Traum ist allemal ein Wink zur De-
mütigung vor Gott.

O! könte ich doch mit meiner Seele einen Bund machen, daß
sie nur Tugenden träumte, oder wenigstens mich, durch Bloß-
stellung meiner Thorheiten, warnte! Der du unsre Gedanken von
ferne verstehest, und sie lenkest wie die Wasserbäche: würdige mich,
o Gott! auch deiner Gnade und Bearbeitung, wann ich nun schla-
fe! Es sey mir keine Kleinigkeit, wenn ich mich auch nur in Träumen
mit Lastern beflecke; denn du verlangest eine reine Seele von mir.
Zu dem Ende will ich niemals anstößigen Gedanken und Erzäh-
lungen lange nachhängen, sondern lieber Tugenden durchdenken, und
stets mit dir, gekreuzigter Heiland! mich beschäftigen, bis ich einschla-
fen, und dann hoffentlich diese heilige Ideen im Traume fortsetzen kan.

Der

Der 24te Februar.
machen: ſo behalten die Traͤume doch noch immer einen groſſen
Nutzen zur Selbſterkentniß.

Sie entdecken uns nicht ſelten wer wir ſind. Was das
ſchlummernde Gewiſſen vertuſcht, oder undeutlich entwirft, das
ſchildert uns der offenherzige Traum. Es giebt gewiſſe geheime
Geſchwuͤre unſers Herzens, welche wir wachend nicht bemerken,
oder bemerken wollen. Die Seele aber legt im Traum alle Ver-
ſtellung ab, und ſtellet ſich in ihrer wahren Bildung dar. Dem
Geizigen wird ſchwerlich traͤumen, daß er ſeine Schaͤtze mit Freu-
den verſchwelge; der Rachgierige ſegnet ſeinen Feind nicht, und
der Unzuͤchtige wird auch traͤumend kein Joſeph. Eine Thorheit
oder ein Laſter im Traume begangen, giebt eine ſtarke Vermuthung,
daß unſre Seele ſich auch wachend leicht dazu entſchloͤſſe, wenn ſie
ungeſehen und ohne Zwang handeln koͤnte. Kanſt du im Traum
deinen Wohlthaͤter betriegen, deinen Feind ermorden, uͤber heilige
Wahrheiten ſpotten: ſo unterſuch genau, wozu du von dieſen Freveln
auch wachend faͤhig waͤrſt. Findeſt du, daß deine Einbildungs-
kraft nur gaukelte, und daß deine Seele nur nachſpielte, was ſie
von andern gehoͤrt oder geſehen hatte: ſo freue dich und gib Gott
die Ehre, daß aus deinem Herzen der Same zu dieſen Laſtern aus-
gerottet iſt. Ein ſolcher Traum iſt allemal ein Wink zur De-
muͤtigung vor Gott.

O! koͤnte ich doch mit meiner Seele einen Bund machen, daß
ſie nur Tugenden traͤumte, oder wenigſtens mich, durch Bloß-
ſtellung meiner Thorheiten, warnte! Der du unſre Gedanken von
ferne verſteheſt, und ſie lenkeſt wie die Waſſerbaͤche: wuͤrdige mich,
o Gott! auch deiner Gnade und Bearbeitung, wann ich nun ſchla-
fe! Es ſey mir keine Kleinigkeit, wenn ich mich auch nur in Traͤumen
mit Laſtern beflecke; denn du verlangeſt eine reine Seele von mir.
Zu dem Ende will ich niemals anſtoͤßigen Gedanken und Erzaͤh-
lungen lange nachhaͤngen, ſondern lieber Tugenden durchdenken, und
ſtets mit dir, gekreuzigter Heiland! mich beſchaͤftigen, bis ich einſchla-
fen, und dann hoffentlich dieſe heilige Ideen im Traume fortſetzen kan.

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[114[144]/0151] Der 24te Februar. machen: ſo behalten die Traͤume doch noch immer einen groſſen Nutzen zur Selbſterkentniß. Sie entdecken uns nicht ſelten wer wir ſind. Was das ſchlummernde Gewiſſen vertuſcht, oder undeutlich entwirft, das ſchildert uns der offenherzige Traum. Es giebt gewiſſe geheime Geſchwuͤre unſers Herzens, welche wir wachend nicht bemerken, oder bemerken wollen. Die Seele aber legt im Traum alle Ver- ſtellung ab, und ſtellet ſich in ihrer wahren Bildung dar. Dem Geizigen wird ſchwerlich traͤumen, daß er ſeine Schaͤtze mit Freu- den verſchwelge; der Rachgierige ſegnet ſeinen Feind nicht, und der Unzuͤchtige wird auch traͤumend kein Joſeph. Eine Thorheit oder ein Laſter im Traume begangen, giebt eine ſtarke Vermuthung, daß unſre Seele ſich auch wachend leicht dazu entſchloͤſſe, wenn ſie ungeſehen und ohne Zwang handeln koͤnte. Kanſt du im Traum deinen Wohlthaͤter betriegen, deinen Feind ermorden, uͤber heilige Wahrheiten ſpotten: ſo unterſuch genau, wozu du von dieſen Freveln auch wachend faͤhig waͤrſt. Findeſt du, daß deine Einbildungs- kraft nur gaukelte, und daß deine Seele nur nachſpielte, was ſie von andern gehoͤrt oder geſehen hatte: ſo freue dich und gib Gott die Ehre, daß aus deinem Herzen der Same zu dieſen Laſtern aus- gerottet iſt. Ein ſolcher Traum iſt allemal ein Wink zur De- muͤtigung vor Gott. O! koͤnte ich doch mit meiner Seele einen Bund machen, daß ſie nur Tugenden traͤumte, oder wenigſtens mich, durch Bloß- ſtellung meiner Thorheiten, warnte! Der du unſre Gedanken von ferne verſteheſt, und ſie lenkeſt wie die Waſſerbaͤche: wuͤrdige mich, o Gott! auch deiner Gnade und Bearbeitung, wann ich nun ſchla- fe! Es ſey mir keine Kleinigkeit, wenn ich mich auch nur in Traͤumen mit Laſtern beflecke; denn du verlangeſt eine reine Seele von mir. Zu dem Ende will ich niemals anſtoͤßigen Gedanken und Erzaͤh- lungen lange nachhaͤngen, ſondern lieber Tugenden durchdenken, und ſtets mit dir, gekreuzigter Heiland! mich beſchaͤftigen, bis ich einſchla- fen, und dann hoffentlich dieſe heilige Ideen im Traume fortſetzen kan. Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 114[144]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/151>, abgerufen am 13.06.2024.