Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ich muß meine Kenntnisse erweitern und meinem Geiste Nahrung gönnen. Er ist einzig! sagte die Frau zu sich selber und lachte fröhlich; und wie schön er ist! So lese ich denn wieder in meinem Tagebuche, sprach Heinrich, das ich ehemals anlegte, und es interessirt mich, rückwärts zu studiren, mit dem Ende anzufangen und mich so nach und nach zu dem Anfange vorzubereiten, damit ich diesen um so besser verstehe. Immer muß alles echte Wissen, alles Kunstwerk und gründliche Denken in einen Kreis zusammenschlagen und Anfang und Ende innigst vereinigen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt -- ein Sinnbild der Ewigkeit, wie Andre sagen: ein Symbol des Verstandes und alles Richtigen, wie ich behaupte. Er las auf der letzten Seite, aber nur halblaut: Man hat ein Märchen, daß ein wüthender Verbrecher, zum Hungertode verdammt, sich selber nach und nach aufspeiset; im Grunde ist das nur die Fabel des Lebens und eines jeden Menschen. Dort blieb am Ende nur der Magen und das Gebiß übrig, bei uns bleibt die Seele, wie sie das Unbegreifliche nennen. Ich aber habe auch, was das Aeußerliche betrifft, in ähnlicher Weise mich abgestreift und abgelebt. Es war beinah lächerlich, daß ich noch einen Frack nebst Zubehör besaß, da ich niemals ausgehe. Am Geburtstage meiner Frau werde ich in Weste und Hemdärmeln vor ihr erscheinen, da es doch unschicklich wäre, bei hoffähigen ich muß meine Kenntnisse erweitern und meinem Geiste Nahrung gönnen. Er ist einzig! sagte die Frau zu sich selber und lachte fröhlich; und wie schön er ist! So lese ich denn wieder in meinem Tagebuche, sprach Heinrich, das ich ehemals anlegte, und es interessirt mich, rückwärts zu studiren, mit dem Ende anzufangen und mich so nach und nach zu dem Anfange vorzubereiten, damit ich diesen um so besser verstehe. Immer muß alles echte Wissen, alles Kunstwerk und gründliche Denken in einen Kreis zusammenschlagen und Anfang und Ende innigst vereinigen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt — ein Sinnbild der Ewigkeit, wie Andre sagen: ein Symbol des Verstandes und alles Richtigen, wie ich behaupte. Er las auf der letzten Seite, aber nur halblaut: Man hat ein Märchen, daß ein wüthender Verbrecher, zum Hungertode verdammt, sich selber nach und nach aufspeiset; im Grunde ist das nur die Fabel des Lebens und eines jeden Menschen. Dort blieb am Ende nur der Magen und das Gebiß übrig, bei uns bleibt die Seele, wie sie das Unbegreifliche nennen. Ich aber habe auch, was das Aeußerliche betrifft, in ähnlicher Weise mich abgestreift und abgelebt. Es war beinah lächerlich, daß ich noch einen Frack nebst Zubehör besaß, da ich niemals ausgehe. Am Geburtstage meiner Frau werde ich in Weste und Hemdärmeln vor ihr erscheinen, da es doch unschicklich wäre, bei hoffähigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0010"/> ich muß meine Kenntnisse erweitern und meinem Geiste Nahrung gönnen.</p><lb/> <p>Er ist einzig! sagte die Frau zu sich selber und lachte fröhlich; und wie schön er ist!</p><lb/> <p>So lese ich denn wieder in meinem Tagebuche, sprach Heinrich, das ich ehemals anlegte, und es interessirt mich, rückwärts zu studiren, mit dem Ende anzufangen und mich so nach und nach zu dem Anfange vorzubereiten, damit ich diesen um so besser verstehe. Immer muß alles echte Wissen, alles Kunstwerk und gründliche Denken in einen Kreis zusammenschlagen und Anfang und Ende innigst vereinigen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt — ein Sinnbild der Ewigkeit, wie Andre sagen: ein Symbol des Verstandes und alles Richtigen, wie ich behaupte.</p><lb/> <p>Er las auf der letzten Seite, aber nur halblaut: Man hat ein Märchen, daß ein wüthender Verbrecher, zum Hungertode verdammt, sich selber nach und nach aufspeiset; im Grunde ist das nur die Fabel des Lebens und eines jeden Menschen. Dort blieb am Ende nur der Magen und das Gebiß übrig, bei uns bleibt die Seele, wie sie das Unbegreifliche nennen. Ich aber habe auch, was das Aeußerliche betrifft, in ähnlicher Weise mich abgestreift und abgelebt. Es war beinah lächerlich, daß ich noch einen Frack nebst Zubehör besaß, da ich niemals ausgehe. Am Geburtstage meiner Frau werde ich in Weste und Hemdärmeln vor ihr erscheinen, da es doch unschicklich wäre, bei hoffähigen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
ich muß meine Kenntnisse erweitern und meinem Geiste Nahrung gönnen.
Er ist einzig! sagte die Frau zu sich selber und lachte fröhlich; und wie schön er ist!
So lese ich denn wieder in meinem Tagebuche, sprach Heinrich, das ich ehemals anlegte, und es interessirt mich, rückwärts zu studiren, mit dem Ende anzufangen und mich so nach und nach zu dem Anfange vorzubereiten, damit ich diesen um so besser verstehe. Immer muß alles echte Wissen, alles Kunstwerk und gründliche Denken in einen Kreis zusammenschlagen und Anfang und Ende innigst vereinigen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt — ein Sinnbild der Ewigkeit, wie Andre sagen: ein Symbol des Verstandes und alles Richtigen, wie ich behaupte.
Er las auf der letzten Seite, aber nur halblaut: Man hat ein Märchen, daß ein wüthender Verbrecher, zum Hungertode verdammt, sich selber nach und nach aufspeiset; im Grunde ist das nur die Fabel des Lebens und eines jeden Menschen. Dort blieb am Ende nur der Magen und das Gebiß übrig, bei uns bleibt die Seele, wie sie das Unbegreifliche nennen. Ich aber habe auch, was das Aeußerliche betrifft, in ähnlicher Weise mich abgestreift und abgelebt. Es war beinah lächerlich, daß ich noch einen Frack nebst Zubehör besaß, da ich niemals ausgehe. Am Geburtstage meiner Frau werde ich in Weste und Hemdärmeln vor ihr erscheinen, da es doch unschicklich wäre, bei hoffähigen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/10 |
Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_ueberfluss_1910/10>, abgerufen am 19.08.2022. |