Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.Zweite Abtheilung. Als Ernst seine Vorlesung geendigt hatte, sagte er: ich bin gewahr geworden, daß das Stück etwas lange währt, auch ist mir mehr als einmal die Furcht angekommen, es möchte durch meine Darstellung die leichtfüßige Grazie der alten Erzählung gelitten haben. Wir behaupteten ja neulich, sagte Lothar, daß das Drama nur dadurch entstehn und ge- winnen könne, wenn die Novelle verliere; es fragte sich also nur, ob in dem neuen Ge- biete so viel oder mehr ist erobert worden, als man auf dem alten freiwillig hat einbüßen müs- sen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzähler die alte liebe Geschichte besser und unschuldiger vortragen könne, im Schauspiel muß die Lustig- keit von selbst herber, die Figuren müssen schär- fer gefaßt werden, vorzüglich aber müssen die beiden Theile, in welche die Geschichte zerfällt, greller gegen einander kontrastiren; die erste wird immer noch etwas vom epischen Charakter behal- ten, wenn der zweite sich ganz in das Phanta- stische und Ausschweifende neigt, welches das Tragische nicht ausschließt. Mir schien immer, fuhr Manfred fort, dieser Gegenstand, vorzüglich die erste Hälfte, ganz un- dramatisch zu seyn: unser Freund hat zwar durch einige Veränderungen des Gegenstandes der Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine eigene fast für sich bestehende Geschichte vorge- Zweite Abtheilung. Als Ernſt ſeine Vorleſung geendigt hatte, ſagte er: ich bin gewahr geworden, daß das Stuͤck etwas lange waͤhrt, auch iſt mir mehr als einmal die Furcht angekommen, es moͤchte durch meine Darſtellung die leichtfuͤßige Grazie der alten Erzaͤhlung gelitten haben. Wir behaupteten ja neulich, ſagte Lothar, daß das Drama nur dadurch entſtehn und ge- winnen koͤnne, wenn die Novelle verliere; es fragte ſich alſo nur, ob in dem neuen Ge- biete ſo viel oder mehr iſt erobert worden, als man auf dem alten freiwillig hat einbuͤßen muͤſ- ſen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzaͤhler die alte liebe Geſchichte beſſer und unſchuldiger vortragen koͤnne, im Schauſpiel muß die Luſtig- keit von ſelbſt herber, die Figuren muͤſſen ſchaͤr- fer gefaßt werden, vorzuͤglich aber muͤſſen die beiden Theile, in welche die Geſchichte zerfaͤllt, greller gegen einander kontraſtiren; die erſte wird immer noch etwas vom epiſchen Charakter behal- ten, wenn der zweite ſich ganz in das Phanta- ſtiſche und Ausſchweifende neigt, welches das Tragiſche nicht ausſchließt. Mir ſchien immer, fuhr Manfred fort, dieſer Gegenſtand, vorzuͤglich die erſte Haͤlfte, ganz un- dramatiſch zu ſeyn: unſer Freund hat zwar durch einige Veraͤnderungen des Gegenſtandes der Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine eigene faſt fuͤr ſich beſtehende Geſchichte vorge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#VAL"> <pb facs="#f0232" n="222"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> <p>Als Ernſt ſeine Vorleſung geendigt hatte,<lb/> ſagte er: ich bin gewahr geworden, daß das<lb/> Stuͤck etwas lange waͤhrt, auch iſt mir mehr<lb/> als einmal die Furcht angekommen, es moͤchte<lb/> durch meine Darſtellung die leichtfuͤßige Grazie<lb/> der alten Erzaͤhlung gelitten haben.</p><lb/> <p>Wir behaupteten ja neulich, ſagte Lothar,<lb/> daß das Drama nur dadurch entſtehn und ge-<lb/> winnen koͤnne, wenn die Novelle verliere; es<lb/> fragte ſich alſo nur, ob in dem neuen Ge-<lb/> biete ſo viel oder mehr iſt erobert worden, als<lb/> man auf dem alten freiwillig hat einbuͤßen muͤſ-<lb/> ſen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzaͤhler<lb/> die alte liebe Geſchichte beſſer und unſchuldiger<lb/> vortragen koͤnne, im Schauſpiel muß die Luſtig-<lb/> keit von ſelbſt herber, die Figuren muͤſſen ſchaͤr-<lb/> fer gefaßt werden, vorzuͤglich aber muͤſſen die<lb/> beiden Theile, in welche die Geſchichte zerfaͤllt,<lb/> greller gegen einander kontraſtiren; die erſte wird<lb/> immer noch etwas vom epiſchen Charakter behal-<lb/> ten, wenn der zweite ſich ganz in das Phanta-<lb/> ſtiſche und Ausſchweifende neigt, welches das<lb/> Tragiſche nicht ausſchließt.</p><lb/> <p>Mir ſchien immer, fuhr Manfred fort, dieſer<lb/> Gegenſtand, vorzuͤglich die erſte Haͤlfte, ganz un-<lb/> dramatiſch zu ſeyn: unſer Freund hat zwar durch<lb/> einige Veraͤnderungen des Gegenſtandes der<lb/> Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er<lb/> hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine<lb/> eigene faſt fuͤr ſich beſtehende Geſchichte vorge-<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [222/0232]
Zweite Abtheilung.
Als Ernſt ſeine Vorleſung geendigt hatte,
ſagte er: ich bin gewahr geworden, daß das
Stuͤck etwas lange waͤhrt, auch iſt mir mehr
als einmal die Furcht angekommen, es moͤchte
durch meine Darſtellung die leichtfuͤßige Grazie
der alten Erzaͤhlung gelitten haben.
Wir behaupteten ja neulich, ſagte Lothar,
daß das Drama nur dadurch entſtehn und ge-
winnen koͤnne, wenn die Novelle verliere; es
fragte ſich alſo nur, ob in dem neuen Ge-
biete ſo viel oder mehr iſt erobert worden, als
man auf dem alten freiwillig hat einbuͤßen muͤſ-
ſen. Ich glaube nicht, daß ein neuer Erzaͤhler
die alte liebe Geſchichte beſſer und unſchuldiger
vortragen koͤnne, im Schauſpiel muß die Luſtig-
keit von ſelbſt herber, die Figuren muͤſſen ſchaͤr-
fer gefaßt werden, vorzuͤglich aber muͤſſen die
beiden Theile, in welche die Geſchichte zerfaͤllt,
greller gegen einander kontraſtiren; die erſte wird
immer noch etwas vom epiſchen Charakter behal-
ten, wenn der zweite ſich ganz in das Phanta-
ſtiſche und Ausſchweifende neigt, welches das
Tragiſche nicht ausſchließt.
Mir ſchien immer, fuhr Manfred fort, dieſer
Gegenſtand, vorzuͤglich die erſte Haͤlfte, ganz un-
dramatiſch zu ſeyn: unſer Freund hat zwar durch
einige Veraͤnderungen des Gegenſtandes der
Schwierigkeit einigermaßen abgeholfen, aber er
hat uns, genau genommen, in jedem Akt eine
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