Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.Zweite Abtheilung. morgen ist wieder ein Heute, und übermorgen auch,und so nimmt ein Tag nach dem andern Abschied, und man denkt in der jugendlichen Vergeßlichkeit nicht daran, daß daraus die Zeit besteht. Eh wir es uns dann versehn, heißt es hinter uns: seht die alte Frau, die dahin geht! Die ersten Male wollt' ichs ordentlich nicht glauben, daß das mir gälte, ich bin es aber nachher wohl inne geworden. Agnes. Siebenzig Jahr sind aber doch eine lange Zeit. Mechtilde. Wenn man sie vor sich hat. In meiner Jugend dachte ich grade so, und -- wollt Ihrs wohl glauben -- des Nachts träumt mir manch- mal noch, ich wäre jung; dann ist mir, als wäre das Wahre, Wirkliche, nur ein Traum gewesen, in welchem ich mir närrischer Weise eingebildet hätte, ich sey eine alte, krumme, pucklichte Frau. Ich habe schon oft darüber lachen müssen. -- Un- ser Ritter wird sogleich wieder abreisen. Agnes. Schon wieder abreisen? Mechtilde. Ja, er hat immer viel Geschäfte, er ist aber noch immer aus allen Fehden und Hän- deln glücklich zurück gekommen. (geht ab.) Agnes. Wie neu mir hier alles ist! Ich kann mich immer noch nicht gewöhnen, und an seine Gestalt am wenigsten; ich weiß manchmal nicht, soll ich lachen, oder mich vor ihm fürchten. -- Meine Schwester ist noch nicht aufgestanden; sie ist nicht wohl: ihr ganzes Leben ist nur mit einem einzigen Gedanken ausgefüllt; ich kann mir nicht denken, wie es möglich ist. Zweite Abtheilung. morgen iſt wieder ein Heute, und uͤbermorgen auch,und ſo nimmt ein Tag nach dem andern Abſchied, und man denkt in der jugendlichen Vergeßlichkeit nicht daran, daß daraus die Zeit beſteht. Eh wir es uns dann verſehn, heißt es hinter uns: ſeht die alte Frau, die dahin geht! Die erſten Male wollt' ichs ordentlich nicht glauben, daß das mir gaͤlte, ich bin es aber nachher wohl inne geworden. Agnes. Siebenzig Jahr ſind aber doch eine lange Zeit. Mechtilde. Wenn man ſie vor ſich hat. In meiner Jugend dachte ich grade ſo, und — wollt Ihrs wohl glauben — des Nachts traͤumt mir manch- mal noch, ich waͤre jung; dann iſt mir, als waͤre das Wahre, Wirkliche, nur ein Traum geweſen, in welchem ich mir naͤrriſcher Weiſe eingebildet haͤtte, ich ſey eine alte, krumme, pucklichte Frau. Ich habe ſchon oft daruͤber lachen muͤſſen. — Un- ſer Ritter wird ſogleich wieder abreiſen. Agnes. Schon wieder abreiſen? Mechtilde. Ja, er hat immer viel Geſchaͤfte, er iſt aber noch immer aus allen Fehden und Haͤn- deln gluͤcklich zuruͤck gekommen. (geht ab.) Agnes. Wie neu mir hier alles iſt! Ich kann mich immer noch nicht gewoͤhnen, und an ſeine Geſtalt am wenigſten; ich weiß manchmal nicht, ſoll ich lachen, oder mich vor ihm fuͤrchten. — Meine Schweſter iſt noch nicht aufgeſtanden; ſie iſt nicht wohl: ihr ganzes Leben iſt nur mit einem einzigen Gedanken ausgefuͤllt; ich kann mir nicht denken, wie es moͤglich iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <sp who="#MEC"> <p><pb facs="#f0091" n="82"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> morgen iſt wieder ein Heute, und uͤbermorgen auch,<lb/> und ſo nimmt ein Tag nach dem andern Abſchied,<lb/> und man denkt in der jugendlichen Vergeßlichkeit<lb/> nicht daran, daß daraus die Zeit beſteht. Eh wir<lb/> es uns dann verſehn, heißt es hinter uns: ſeht<lb/> die alte Frau, die dahin geht! 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Zweite Abtheilung.
morgen iſt wieder ein Heute, und uͤbermorgen auch,
und ſo nimmt ein Tag nach dem andern Abſchied,
und man denkt in der jugendlichen Vergeßlichkeit
nicht daran, daß daraus die Zeit beſteht. Eh wir
es uns dann verſehn, heißt es hinter uns: ſeht
die alte Frau, die dahin geht! Die erſten Male
wollt' ichs ordentlich nicht glauben, daß das mir
gaͤlte, ich bin es aber nachher wohl inne geworden.
Agnes. Siebenzig Jahr ſind aber doch eine
lange Zeit.
Mechtilde. Wenn man ſie vor ſich hat.
In meiner Jugend dachte ich grade ſo, und — wollt
Ihrs wohl glauben — des Nachts traͤumt mir manch-
mal noch, ich waͤre jung; dann iſt mir, als waͤre
das Wahre, Wirkliche, nur ein Traum geweſen,
in welchem ich mir naͤrriſcher Weiſe eingebildet
haͤtte, ich ſey eine alte, krumme, pucklichte Frau.
Ich habe ſchon oft daruͤber lachen muͤſſen. — Un-
ſer Ritter wird ſogleich wieder abreiſen.
Agnes. Schon wieder abreiſen?
Mechtilde. Ja, er hat immer viel Geſchaͤfte,
er iſt aber noch immer aus allen Fehden und Haͤn-
deln gluͤcklich zuruͤck gekommen. (geht ab.)
Agnes. Wie neu mir hier alles iſt! Ich
kann mich immer noch nicht gewoͤhnen, und an
ſeine Geſtalt am wenigſten; ich weiß manchmal
nicht, ſoll ich lachen, oder mich vor ihm fuͤrchten.
— Meine Schweſter iſt noch nicht aufgeſtanden;
ſie iſt nicht wohl: ihr ganzes Leben iſt nur mit
einem einzigen Gedanken ausgefuͤllt; ich kann mir
nicht denken, wie es moͤglich iſt.
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