Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.Zweite Abtheilung. ich in meiner Jugend an zweien Gebrechen litt,von denen ich das eine wirklich, das andre we- nigstens zum Schein abgelegt habe. Das erste war eine träumerische Zerstreutheit, die oft bis zum Unglaublichen stieg, und die ich mir durch fortgesetzte Aufmerksamkeit dermaßen entfremdet habe, daß ich, als einer, der immer besonnen ist, diejenigen, die an dieser Schwäche leiden, vielleicht jetzt mit Unbilligkeit verfolge. Der zweite Fehler war eine tolle Heftigkeit und Leidenschaft- lichkeit, die mich oft noch mehr verwirrte, denn der plötzlichste Jachzorn konnte mir auf Sekun- den, ja Minuten, alles Bewußtseyn rauben. Seit ich aber die Verwerflichkeit einer solchen Sinnes- art eingesehn, habe ich so an mir selbst gemei- stert, daß ich oft sogar kalt scheinen kann, wenn ich auch noch so heftig bewegt bin. Doch tritt immer noch bei jeder Beleidigung, bei jedem Verdruß derselbe Zustand ein, das Verschwin- den aller Gedanken, ein Blitz, der durch mein ganzes Wesen zuckt, aber ich bin im Stande, diese Erschütterung vorüber gehn zu lassen. Selbst Stellen in Dichtern können mich auf diese Weise erregen, vollends Schauspiele, und Shakspears Coriolan, besonders wenn ich ihn laut vorlese, erfüllt mich mit demselben Zorne. Daß man eine Rolle, wie die des Otto von Wittelsbach, ohne dieselbe Empfindung gut spielen könne, ist mir unbegreiflich. Ich habe, sagte Manfred, über diesen Ge- Zweite Abtheilung. ich in meiner Jugend an zweien Gebrechen litt,von denen ich das eine wirklich, das andre we- nigſtens zum Schein abgelegt habe. Das erſte war eine traͤumeriſche Zerſtreutheit, die oft bis zum Unglaublichen ſtieg, und die ich mir durch fortgeſetzte Aufmerkſamkeit dermaßen entfremdet habe, daß ich, als einer, der immer beſonnen iſt, diejenigen, die an dieſer Schwaͤche leiden, vielleicht jetzt mit Unbilligkeit verfolge. Der zweite Fehler war eine tolle Heftigkeit und Leidenſchaft- lichkeit, die mich oft noch mehr verwirrte, denn der ploͤtzlichſte Jachzorn konnte mir auf Sekun- den, ja Minuten, alles Bewußtſeyn rauben. Seit ich aber die Verwerflichkeit einer ſolchen Sinnes- art eingeſehn, habe ich ſo an mir ſelbſt gemei- ſtert, daß ich oft ſogar kalt ſcheinen kann, wenn ich auch noch ſo heftig bewegt bin. Doch tritt immer noch bei jeder Beleidigung, bei jedem Verdruß derſelbe Zuſtand ein, das Verſchwin- den aller Gedanken, ein Blitz, der durch mein ganzes Weſen zuckt, aber ich bin im Stande, dieſe Erſchuͤtterung voruͤber gehn zu laſſen. Selbſt Stellen in Dichtern koͤnnen mich auf dieſe Weiſe erregen, vollends Schauſpiele, und Shakſpears Coriolan, beſonders wenn ich ihn laut vorleſe, erfuͤllt mich mit demſelben Zorne. Daß man eine Rolle, wie die des Otto von Wittelsbach, ohne dieſelbe Empfindung gut ſpielen koͤnne, iſt mir unbegreiflich. Ich habe, ſagte Manfred, uͤber dieſen Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0402" n="393"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/> ich in meiner Jugend an zweien Gebrechen litt,<lb/> von denen ich das eine wirklich, das andre we-<lb/> nigſtens zum Schein abgelegt habe. Das erſte<lb/> war eine traͤumeriſche Zerſtreutheit, die oft bis<lb/> zum Unglaublichen ſtieg, und die ich mir durch<lb/> fortgeſetzte Aufmerkſamkeit dermaßen entfremdet<lb/> habe, daß ich, als einer, der immer beſonnen<lb/> iſt, diejenigen, die an dieſer Schwaͤche leiden,<lb/> vielleicht jetzt mit Unbilligkeit verfolge. Der zweite<lb/> Fehler war eine tolle Heftigkeit und Leidenſchaft-<lb/> lichkeit, die mich oft noch mehr verwirrte, denn<lb/> der ploͤtzlichſte Jachzorn konnte mir auf Sekun-<lb/> den, ja Minuten, alles Bewußtſeyn rauben. Seit<lb/> ich aber die Verwerflichkeit einer ſolchen Sinnes-<lb/> art eingeſehn, habe ich ſo an mir ſelbſt gemei-<lb/> ſtert, daß ich oft ſogar kalt ſcheinen kann, wenn<lb/> ich auch noch ſo heftig bewegt bin. Doch tritt<lb/> immer noch bei jeder Beleidigung, bei jedem<lb/> Verdruß derſelbe Zuſtand ein, das Verſchwin-<lb/> den aller Gedanken, ein Blitz, der durch mein<lb/> ganzes Weſen zuckt, aber ich bin im Stande,<lb/> dieſe Erſchuͤtterung voruͤber gehn zu laſſen. Selbſt<lb/> Stellen in Dichtern koͤnnen mich auf dieſe Weiſe<lb/> erregen, vollends Schauſpiele, und Shakſpears<lb/> Coriolan, beſonders wenn ich ihn laut vorleſe,<lb/> erfuͤllt mich mit demſelben Zorne. Daß man<lb/> eine Rolle, wie die des Otto von Wittelsbach,<lb/> ohne dieſelbe Empfindung gut ſpielen koͤnne, iſt<lb/> mir unbegreiflich.</p><lb/> <p>Ich habe, ſagte Manfred, uͤber dieſen Ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [393/0402]
Zweite Abtheilung.
ich in meiner Jugend an zweien Gebrechen litt,
von denen ich das eine wirklich, das andre we-
nigſtens zum Schein abgelegt habe. Das erſte
war eine traͤumeriſche Zerſtreutheit, die oft bis
zum Unglaublichen ſtieg, und die ich mir durch
fortgeſetzte Aufmerkſamkeit dermaßen entfremdet
habe, daß ich, als einer, der immer beſonnen
iſt, diejenigen, die an dieſer Schwaͤche leiden,
vielleicht jetzt mit Unbilligkeit verfolge. Der zweite
Fehler war eine tolle Heftigkeit und Leidenſchaft-
lichkeit, die mich oft noch mehr verwirrte, denn
der ploͤtzlichſte Jachzorn konnte mir auf Sekun-
den, ja Minuten, alles Bewußtſeyn rauben. Seit
ich aber die Verwerflichkeit einer ſolchen Sinnes-
art eingeſehn, habe ich ſo an mir ſelbſt gemei-
ſtert, daß ich oft ſogar kalt ſcheinen kann, wenn
ich auch noch ſo heftig bewegt bin. Doch tritt
immer noch bei jeder Beleidigung, bei jedem
Verdruß derſelbe Zuſtand ein, das Verſchwin-
den aller Gedanken, ein Blitz, der durch mein
ganzes Weſen zuckt, aber ich bin im Stande,
dieſe Erſchuͤtterung voruͤber gehn zu laſſen. Selbſt
Stellen in Dichtern koͤnnen mich auf dieſe Weiſe
erregen, vollends Schauſpiele, und Shakſpears
Coriolan, beſonders wenn ich ihn laut vorleſe,
erfuͤllt mich mit demſelben Zorne. Daß man
eine Rolle, wie die des Otto von Wittelsbach,
ohne dieſelbe Empfindung gut ſpielen koͤnne, iſt
mir unbegreiflich.
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