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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
Clara, habe ich einmal im Vasari gelesen, welche
die Florentinischen Maler einander gaben, und
die mich nur würden geängstigt haben, denn
diese trieben die Verkehrtheit vielleicht auf das
äußerste. Nicht bloß, daß sie Palläste und Tem-
pel von verschiedenen Speisen errichteten und
verzehrten, sondern selbst die Hölle mit ihren
Gespenstern mußte ihrem poetischen Uebermuthe
dienen, und Kröten und Schlangen enthielten
gut zubereitete Gerichte, und der Nachtisch von
Zucker bestand aus Schädeln und Todtenge-
beinen.

Gern, sagte Manfred, hätt' ich an diesen
bizarren, phantastischen Dingen Theil genommen,
ich habe jene Beschreibung nie ohne die größte
Freude lesen können. Warum sollte denn nicht
Furcht, Abscheu, Angst, Ueberraschung zur Ab-
wechselung auch einmal in unser nächstes und
alltäglichstes Leben hinein gespielt werden? Al-
les, auch das Seltsamste und Widersinnigste hat
seine Zeit.

Freilich mußt du so sprechen, sagte Lothar,
der du auch die Abentheuerlichkeiten des Höllen-
Breughels liebst, und der du, wenn deine Laune
dich anstößt, allen Geschmack gänzlich läugnest
und aus der Reihe der Dinge ausstreichen willst.

Wüsten wir doch nur, sagte Manfred, wo
diese Sphinx sich aufhält, die alle wollen gese-
hen haben, und von der doch Niemand Rechen-
schaft zu geben weiß: bald glaubt man an das

Einleitung.
Clara, habe ich einmal im Vaſari geleſen, welche
die Florentiniſchen Maler einander gaben, und
die mich nur wuͤrden geaͤngſtigt haben, denn
dieſe trieben die Verkehrtheit vielleicht auf das
aͤußerſte. Nicht bloß, daß ſie Pallaͤſte und Tem-
pel von verſchiedenen Speiſen errichteten und
verzehrten, ſondern ſelbſt die Hoͤlle mit ihren
Geſpenſtern mußte ihrem poetiſchen Uebermuthe
dienen, und Kroͤten und Schlangen enthielten
gut zubereitete Gerichte, und der Nachtiſch von
Zucker beſtand aus Schaͤdeln und Todtenge-
beinen.

Gern, ſagte Manfred, haͤtt' ich an dieſen
bizarren, phantaſtiſchen Dingen Theil genommen,
ich habe jene Beſchreibung nie ohne die groͤßte
Freude leſen koͤnnen. Warum ſollte denn nicht
Furcht, Abſcheu, Angſt, Ueberraſchung zur Ab-
wechſelung auch einmal in unſer naͤchſtes und
alltaͤglichſtes Leben hinein geſpielt werden? Al-
les, auch das Seltſamſte und Widerſinnigſte hat
ſeine Zeit.

Freilich mußt du ſo ſprechen, ſagte Lothar,
der du auch die Abentheuerlichkeiten des Hoͤllen-
Breughels liebſt, und der du, wenn deine Laune
dich anſtoͤßt, allen Geſchmack gaͤnzlich laͤugneſt
und aus der Reihe der Dinge ausſtreichen willſt.

Wuͤſten wir doch nur, ſagte Manfred, wo
dieſe Sphinx ſich aufhaͤlt, die alle wollen geſe-
hen haben, und von der doch Niemand Rechen-
ſchaft zu geben weiß: bald glaubt man an das

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[71/0082] Einleitung. Clara, habe ich einmal im Vaſari geleſen, welche die Florentiniſchen Maler einander gaben, und die mich nur wuͤrden geaͤngſtigt haben, denn dieſe trieben die Verkehrtheit vielleicht auf das aͤußerſte. Nicht bloß, daß ſie Pallaͤſte und Tem- pel von verſchiedenen Speiſen errichteten und verzehrten, ſondern ſelbſt die Hoͤlle mit ihren Geſpenſtern mußte ihrem poetiſchen Uebermuthe dienen, und Kroͤten und Schlangen enthielten gut zubereitete Gerichte, und der Nachtiſch von Zucker beſtand aus Schaͤdeln und Todtenge- beinen. Gern, ſagte Manfred, haͤtt' ich an dieſen bizarren, phantaſtiſchen Dingen Theil genommen, ich habe jene Beſchreibung nie ohne die groͤßte Freude leſen koͤnnen. Warum ſollte denn nicht Furcht, Abſcheu, Angſt, Ueberraſchung zur Ab- wechſelung auch einmal in unſer naͤchſtes und alltaͤglichſtes Leben hinein geſpielt werden? Al- les, auch das Seltſamſte und Widerſinnigſte hat ſeine Zeit. Freilich mußt du ſo ſprechen, ſagte Lothar, der du auch die Abentheuerlichkeiten des Hoͤllen- Breughels liebſt, und der du, wenn deine Laune dich anſtoͤßt, allen Geſchmack gaͤnzlich laͤugneſt und aus der Reihe der Dinge ausſtreichen willſt. Wuͤſten wir doch nur, ſagte Manfred, wo dieſe Sphinx ſich aufhaͤlt, die alle wollen geſe- hen haben, und von der doch Niemand Rechen- ſchaft zu geben weiß: bald glaubt man an das

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/82>, abgerufen am 03.05.2024.