Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Rothkäppchen. Sie meinen, der könnte recht den Text auslegen. --Du hast ja schönen frischen Sand gestreut. Großmutter. Man muß doch auch wissen, daß Sonntag ist, Sonst lebt man wie'n Heide und nicht wie ein Christ. Rothkäppchen. Sie haben mich auch heute weiß angezogen, Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid! Dem Käppchen bin ich besonders gewogen, Das du mir schenktest zur Weihnachtszeit. Sie sagen alle, es thäte Noth, Daß ich das Käppchen ließe liegen Und es nicht alle Tage trüge; Aber es geht doch keine Farbe über Roth. Großmutter. Ei, liebes Kind, trag du sie dreist, Ich hab sie dir geschenkt zum heiligen Christ, Sie kleidt dich hübsch, und wie du weißt, Du seitdem Rothkäppchen geheißen bist; Ist die aufgetragen, schafft man wohl Rath zu 'ner neuen. Rothkäppchen. Wie wollt ich mich von Herzen freuen Wenn sie mich erst könnten konfirmiren! Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe schenken. Großmutter. Daran ist jetzt noch nicht zu denken, Du bist kaum sieben Jahr, da führen Sie noch kein Kind an den Tisch des Herrn, Da können sie noch nichts von Religion verstehn, I. [ 31 ]
Rothkaͤppchen. Sie meinen, der koͤnnte recht den Text auslegen. —Du haſt ja ſchoͤnen friſchen Sand geſtreut. Großmutter. Man muß doch auch wiſſen, daß Sonntag iſt, Sonſt lebt man wie'n Heide und nicht wie ein Chriſt. Rothkaͤppchen. Sie haben mich auch heute weiß angezogen, Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid! Dem Kaͤppchen bin ich beſonders gewogen, Das du mir ſchenkteſt zur Weihnachtszeit. Sie ſagen alle, es thaͤte Noth, Daß ich das Kaͤppchen ließe liegen Und es nicht alle Tage truͤge; Aber es geht doch keine Farbe uͤber Roth. Großmutter. Ei, liebes Kind, trag du ſie dreiſt, Ich hab ſie dir geſchenkt zum heiligen Chriſt, Sie kleidt dich huͤbſch, und wie du weißt, Du ſeitdem Rothkaͤppchen geheißen biſt; Iſt die aufgetragen, ſchafft man wohl Rath zu 'ner neuen. Rothkaͤppchen. Wie wollt ich mich von Herzen freuen Wenn ſie mich erſt koͤnnten konfirmiren! Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe ſchenken. Großmutter. Daran iſt jetzt noch nicht zu denken, Du biſt kaum ſieben Jahr, da fuͤhren Sie noch kein Kind an den Tiſch des Herrn, Da koͤnnen ſie noch nichts von Religion verſtehn, I. [ 31 ]
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Rothkaͤppchen.
Sie meinen, der koͤnnte recht den Text auslegen. —
Du haſt ja ſchoͤnen friſchen Sand geſtreut.
Großmutter.
Man muß doch auch wiſſen, daß Sonntag iſt,
Sonſt lebt man wie'n Heide und nicht wie ein
Chriſt.
Rothkaͤppchen.
Sie haben mich auch heute weiß angezogen,
Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid!
Dem Kaͤppchen bin ich beſonders gewogen,
Das du mir ſchenkteſt zur Weihnachtszeit.
Sie ſagen alle, es thaͤte Noth,
Daß ich das Kaͤppchen ließe liegen
Und es nicht alle Tage truͤge;
Aber es geht doch keine Farbe uͤber Roth.
Großmutter.
Ei, liebes Kind, trag du ſie dreiſt,
Ich hab ſie dir geſchenkt zum heiligen Chriſt,
Sie kleidt dich huͤbſch, und wie du weißt,
Du ſeitdem Rothkaͤppchen geheißen biſt;
Iſt die aufgetragen, ſchafft man wohl Rath zu
'ner neuen.
Rothkaͤppchen.
Wie wollt ich mich von Herzen freuen
Wenn ſie mich erſt koͤnnten konfirmiren!
Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe ſchenken.
Großmutter.
Daran iſt jetzt noch nicht zu denken,
Du biſt kaum ſieben Jahr, da fuͤhren
Sie noch kein Kind an den Tiſch des Herrn,
Da koͤnnen ſie noch nichts von Religion verſtehn,
I. [ 31 ]
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Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/492>, abgerufen am 16.07.2024. |