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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
die Musik ist mit dem Menschen und der Schöp-
fung schon von dieser heiligen reinen Bahn
gewichen: alles verstummt; da ergreift die Sehn-
sucht aus dem Innersten hervor den Ton, und
will in jene alte Unschuld zurück stürmen und
das Paradies wieder erobern. Leo, und viel-
leicht Marcello, so wie viele andre, charakterisi-
ren diese Epoche. An diese schon mehr leiden-
schaftliche Kunst schlossen sich nachher die welt-
lichen Musiker. Drittens kann die geistliche
Musik ganz wie ein unschuldiges Kind spielen
und tändeln, arglos in der Süßigkeit der Töne
wühlen und plätschern, und auf gelinde Weise
Schmerz und Freude vermischt in den lieblich-
sten Melodien ausgießen. Der oft von den
Gelehrteren verkannte Pergolese scheint mir hierin
das Höchste erreicht zu haben, den seine Nach-
ahmer wohl eben so wenig verstanden, als Cor-
reggio von denen gefaßt wurde, die sich nach
ihm bilden wollten. Das ähnliche sagen fol-
gende Sonette, welche die Musik selber spricht.

Im Anfang war das Wort. Die ewgen Tiefen
Entzündeten sich brünstig im Verlangen,
Die Liebe nahm das Wort in Lust gefangen,
Aufschlugen hell die Augen, welche schliefen,
Sehnsüchtge Angst, das Freudezittern, riefen
Die seelgen Thränen auf die heilgen Wangen,
Daß alle Kräfte wollustreich erklangen,
Begierig, in sich selbst sich zu vertiefen.

Erſte Abtheilung.
die Muſik iſt mit dem Menſchen und der Schoͤp-
fung ſchon von dieſer heiligen reinen Bahn
gewichen: alles verſtummt; da ergreift die Sehn-
ſucht aus dem Innerſten hervor den Ton, und
will in jene alte Unſchuld zuruͤck ſtuͤrmen und
das Paradies wieder erobern. Leo, und viel-
leicht Marcello, ſo wie viele andre, charakteriſi-
ren dieſe Epoche. An dieſe ſchon mehr leiden-
ſchaftliche Kunſt ſchloſſen ſich nachher die welt-
lichen Muſiker. Drittens kann die geiſtliche
Muſik ganz wie ein unſchuldiges Kind ſpielen
und taͤndeln, arglos in der Suͤßigkeit der Toͤne
wuͤhlen und plaͤtſchern, und auf gelinde Weiſe
Schmerz und Freude vermiſcht in den lieblich-
ſten Melodien ausgießen. Der oft von den
Gelehrteren verkannte Pergoleſe ſcheint mir hierin
das Hoͤchſte erreicht zu haben, den ſeine Nach-
ahmer wohl eben ſo wenig verſtanden, als Cor-
reggio von denen gefaßt wurde, die ſich nach
ihm bilden wollten. Das aͤhnliche ſagen fol-
gende Sonette, welche die Muſik ſelber ſpricht.

Im Anfang war das Wort. Die ewgen Tiefen
Entzuͤndeten ſich bruͤnſtig im Verlangen,
Die Liebe nahm das Wort in Luſt gefangen,
Aufſchlugen hell die Augen, welche ſchliefen,
Sehnſuͤchtge Angſt, das Freudezittern, riefen
Die ſeelgen Thraͤnen auf die heilgen Wangen,
Daß alle Kraͤfte wolluſtreich erklangen,
Begierig, in ſich ſelbſt ſich zu vertiefen.

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[472/0483] Erſte Abtheilung. die Muſik iſt mit dem Menſchen und der Schoͤp- fung ſchon von dieſer heiligen reinen Bahn gewichen: alles verſtummt; da ergreift die Sehn- ſucht aus dem Innerſten hervor den Ton, und will in jene alte Unſchuld zuruͤck ſtuͤrmen und das Paradies wieder erobern. Leo, und viel- leicht Marcello, ſo wie viele andre, charakteriſi- ren dieſe Epoche. An dieſe ſchon mehr leiden- ſchaftliche Kunſt ſchloſſen ſich nachher die welt- lichen Muſiker. Drittens kann die geiſtliche Muſik ganz wie ein unſchuldiges Kind ſpielen und taͤndeln, arglos in der Suͤßigkeit der Toͤne wuͤhlen und plaͤtſchern, und auf gelinde Weiſe Schmerz und Freude vermiſcht in den lieblich- ſten Melodien ausgießen. Der oft von den Gelehrteren verkannte Pergoleſe ſcheint mir hierin das Hoͤchſte erreicht zu haben, den ſeine Nach- ahmer wohl eben ſo wenig verſtanden, als Cor- reggio von denen gefaßt wurde, die ſich nach ihm bilden wollten. Das aͤhnliche ſagen fol- gende Sonette, welche die Muſik ſelber ſpricht. Im Anfang war das Wort. Die ewgen Tiefen Entzuͤndeten ſich bruͤnſtig im Verlangen, Die Liebe nahm das Wort in Luſt gefangen, Aufſchlugen hell die Augen, welche ſchliefen, Sehnſuͤchtge Angſt, das Freudezittern, riefen Die ſeelgen Thraͤnen auf die heilgen Wangen, Daß alle Kraͤfte wolluſtreich erklangen, Begierig, in ſich ſelbſt ſich zu vertiefen.

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/483>, abgerufen am 15.05.2024.