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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Zauberspiel rührt den ernsten, sonst unerbittlichen
Gott, die Larven und Verdammten genießen in
seinen Tönen einer schnell vorüber fliehenden
Seeligkeit; Eurydice folgt seinem Saitenspiel,
aber nicht rückwärts soll er blicken, ihr nicht
ins Angesicht schauen, sie nur im Glauben be-
sitzen; sie lockt, sie ruft, sie weint, da wendet
sich sein Auge, und blasser und blasser zittert die
geliebte Gestalt in den gähnenden Orkus zurück.
Der Sänger tritt mit der Kraft seiner Töne wie-
der in die Oberwelt, sein Lied singt und klagt
die Verlorene, alle Melodien suchen sie, aber
er hat aus dem tiefen Abgrund, den kein Sän-
ger vor ihm besucht, das schwermüthige Rollen
der unterirdischen Wässer, das Aechzen der Ge-
marterten, das Stöhnen der Geängstigten und das
Hohnlachen der Furien, samt allen Gräueln der
dunkeln Reiche mit herauf gebracht, und alles
klingt in vielfach verschlungener Kunst in der
Lieblichkeit seiner Lieder. Himmel und Hölle, die
durch unermeßliche Klüfte getrennt waren, sind
zauberhaft und zum Erschrecken in der Kunst
vereinigt, die ursprünglich reines Licht, stille Liebe
und lobpreisende Andacht war. So erscheint mir
Mozarts Musik.

Es war den neusten Zeiten vorbehalten,
fuhr Lothar fort, den wundervollen Reichthum
des menschlichen Sinnes in dieser Kunst, vor-
züglich in der Instrumental-Musik auszuspre-
chen. In diesen vielstimmigen Compositionen

Erſte Abtheilung.
Zauberſpiel ruͤhrt den ernſten, ſonſt unerbittlichen
Gott, die Larven und Verdammten genießen in
ſeinen Toͤnen einer ſchnell voruͤber fliehenden
Seeligkeit; Eurydice folgt ſeinem Saitenſpiel,
aber nicht ruͤckwaͤrts ſoll er blicken, ihr nicht
ins Angeſicht ſchauen, ſie nur im Glauben be-
ſitzen; ſie lockt, ſie ruft, ſie weint, da wendet
ſich ſein Auge, und blaſſer und blaſſer zittert die
geliebte Geſtalt in den gaͤhnenden Orkus zuruͤck.
Der Saͤnger tritt mit der Kraft ſeiner Toͤne wie-
der in die Oberwelt, ſein Lied ſingt und klagt
die Verlorene, alle Melodien ſuchen ſie, aber
er hat aus dem tiefen Abgrund, den kein Saͤn-
ger vor ihm beſucht, das ſchwermuͤthige Rollen
der unterirdiſchen Waͤſſer, das Aechzen der Ge-
marterten, das Stoͤhnen der Geaͤngſtigten und das
Hohnlachen der Furien, ſamt allen Graͤueln der
dunkeln Reiche mit herauf gebracht, und alles
klingt in vielfach verſchlungener Kunſt in der
Lieblichkeit ſeiner Lieder. Himmel und Hoͤlle, die
durch unermeßliche Kluͤfte getrennt waren, ſind
zauberhaft und zum Erſchrecken in der Kunſt
vereinigt, die urſpruͤnglich reines Licht, ſtille Liebe
und lobpreiſende Andacht war. So erſcheint mir
Mozarts Muſik.

Es war den neuſten Zeiten vorbehalten,
fuhr Lothar fort, den wundervollen Reichthum
des menſchlichen Sinnes in dieſer Kunſt, vor-
zuͤglich in der Inſtrumental-Muſik auszuſpre-
chen. In dieſen vielſtimmigen Compoſitionen

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[469/0480] Erſte Abtheilung. Zauberſpiel ruͤhrt den ernſten, ſonſt unerbittlichen Gott, die Larven und Verdammten genießen in ſeinen Toͤnen einer ſchnell voruͤber fliehenden Seeligkeit; Eurydice folgt ſeinem Saitenſpiel, aber nicht ruͤckwaͤrts ſoll er blicken, ihr nicht ins Angeſicht ſchauen, ſie nur im Glauben be- ſitzen; ſie lockt, ſie ruft, ſie weint, da wendet ſich ſein Auge, und blaſſer und blaſſer zittert die geliebte Geſtalt in den gaͤhnenden Orkus zuruͤck. Der Saͤnger tritt mit der Kraft ſeiner Toͤne wie- der in die Oberwelt, ſein Lied ſingt und klagt die Verlorene, alle Melodien ſuchen ſie, aber er hat aus dem tiefen Abgrund, den kein Saͤn- ger vor ihm beſucht, das ſchwermuͤthige Rollen der unterirdiſchen Waͤſſer, das Aechzen der Ge- marterten, das Stoͤhnen der Geaͤngſtigten und das Hohnlachen der Furien, ſamt allen Graͤueln der dunkeln Reiche mit herauf gebracht, und alles klingt in vielfach verſchlungener Kunſt in der Lieblichkeit ſeiner Lieder. Himmel und Hoͤlle, die durch unermeßliche Kluͤfte getrennt waren, ſind zauberhaft und zum Erſchrecken in der Kunſt vereinigt, die urſpruͤnglich reines Licht, ſtille Liebe und lobpreiſende Andacht war. So erſcheint mir Mozarts Muſik. Es war den neuſten Zeiten vorbehalten, fuhr Lothar fort, den wundervollen Reichthum des menſchlichen Sinnes in dieſer Kunſt, vor- zuͤglich in der Inſtrumental-Muſik auszuſpre- chen. In dieſen vielſtimmigen Compoſitionen

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/480>, abgerufen am 25.11.2024.