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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
lung austoben wollen, hier verliert sie ihren
Geist, und wird nur eine schwache Nachahmerin
der Rede und Poesie.

Du scheinst mir jetzt zu einseitig, sagte Lo-
thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut,
wo du den Mozart hoch verehrtest.

Ich müßte ohne Gefühl seyn, antwortete
Ernst, wenn ich den wundersamen, reichen und
tiefen Geist dieses Künstlers nicht ehren und lie-
ben sollte, wenn ich mich nicht von seinen Wer-
ken hingerissen fühlte. Nur muß man mich kein
Requiem von ihm wollen hören lassen, oder mich
zu überzeugen suchen, daß er, so wie die meisten
Neueren, wirklich eine geistliche Musik habe setzen
können. Aber er ist einzig in seiner Kunst.
Als die Musik ihre himmlische Unschuld verlo-
ren, und sich schon längst zu den kleinlichen Lei-
denschaften der Menschen erniedrigt hatte, fand
er sie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus
bewegtem Herzen das Wundersamste, Fremdeste,
ihr Unnatürlichste austönen; zugleich jene tiefe
Leidenschaft der Seele, jenes Ringen aller Kräfte
in unaussprechlicher Sehnsucht, nicht fremd so-
gar blieb ihr das gespenstische Grauen und Ent-
setzen. Ich sehe hierinn die Geschichte des Or-
pheus und der Eurydice. Sie ist gestorben; bei
den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt
die Geliebte; er fühlt Kraft und Muth genug,
das Licht der Sonne zu verlassen, sich der schwar-
zen Flut und Dämmerung anzuvertrauen; sein

Erſte Abtheilung.
lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren
Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin
der Rede und Poeſie.

Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo-
thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut,
wo du den Mozart hoch verehrteſt.

Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete
Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und
tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie-
ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer-
ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein
Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich
zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten
Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen
koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt.
Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo-
ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei-
denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand
er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus
bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte,
ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe
Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte
in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo-
gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent-
ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or-
pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei
den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt
die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug,
das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar-
zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein

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[468/0479] Erſte Abtheilung. lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin der Rede und Poeſie. Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo- thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut, wo du den Mozart hoch verehrteſt. Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie- ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer- ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt. Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo- ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei- denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte, ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo- gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent- ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or- pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug, das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar- zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/479>, abgerufen am 22.11.2024.