lung austoben wollen, hier verliert sie ihren Geist, und wird nur eine schwache Nachahmerin der Rede und Poesie.
Du scheinst mir jetzt zu einseitig, sagte Lo- thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut, wo du den Mozart hoch verehrtest.
Ich müßte ohne Gefühl seyn, antwortete Ernst, wenn ich den wundersamen, reichen und tiefen Geist dieses Künstlers nicht ehren und lie- ben sollte, wenn ich mich nicht von seinen Wer- ken hingerissen fühlte. Nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hören lassen, oder mich zu überzeugen suchen, daß er, so wie die meisten Neueren, wirklich eine geistliche Musik habe setzen können. Aber er ist einzig in seiner Kunst. Als die Musik ihre himmlische Unschuld verlo- ren, und sich schon längst zu den kleinlichen Lei- denschaften der Menschen erniedrigt hatte, fand er sie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus bewegtem Herzen das Wundersamste, Fremdeste, ihr Unnatürlichste austönen; zugleich jene tiefe Leidenschaft der Seele, jenes Ringen aller Kräfte in unaussprechlicher Sehnsucht, nicht fremd so- gar blieb ihr das gespenstische Grauen und Ent- setzen. Ich sehe hierinn die Geschichte des Or- pheus und der Eurydice. Sie ist gestorben; bei den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt die Geliebte; er fühlt Kraft und Muth genug, das Licht der Sonne zu verlassen, sich der schwar- zen Flut und Dämmerung anzuvertrauen; sein
Erſte Abtheilung.
lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin der Rede und Poeſie.
Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo- thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut, wo du den Mozart hoch verehrteſt.
Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie- ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer- ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt. Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo- ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei- denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte, ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo- gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent- ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or- pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug, das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar- zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0479"n="468"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren<lb/>
Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin<lb/>
der Rede und Poeſie.</p><lb/><p>Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo-<lb/>
thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut,<lb/>
wo du den Mozart hoch verehrteſt.</p><lb/><p>Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete<lb/>
Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und<lb/>
tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie-<lb/>
ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer-<lb/>
ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein<lb/>
Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich<lb/>
zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten<lb/>
Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen<lb/>
koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt.<lb/>
Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo-<lb/>
ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei-<lb/>
denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand<lb/>
er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus<lb/>
bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte,<lb/>
ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe<lb/>
Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte<lb/>
in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo-<lb/>
gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent-<lb/>ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or-<lb/>
pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei<lb/>
den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt<lb/>
die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug,<lb/>
das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar-<lb/>
zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[468/0479]
Erſte Abtheilung.
lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren
Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin
der Rede und Poeſie.
Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo-
thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut,
wo du den Mozart hoch verehrteſt.
Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete
Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und
tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie-
ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer-
ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein
Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich
zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten
Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen
koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt.
Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo-
ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei-
denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand
er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus
bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte,
ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe
Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte
in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo-
gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent-
ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or-
pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei
den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt
die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug,
das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar-
zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/479>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.