tur, der lyrische Schwung der Gesänge, die schön gewählten und kräftig ausgeführten Bil- der haben mich jedesmal bis zur Entzückung hin- gerissen. Trefflich, wenn gleich nicht von dieser Vollendung, ist seine Schaafschur, reicher als dieses Gemählde aus unserer Zeit, sein Nußker- nen. In dem Gedicht "Adams erstes Erwa- chen" befindet er sich freilich auch zuweilen in jener Leere, die sich nicht poetisch bevölkern läßt, aber einzelne Stellen sind von großer Schön- heit, und in der Darstellung der Thiere scheint er mir einzig; ich weiß wenigstens keinen Dich- ter, der sie uns mit dieser geistigen Lebendigkeit vor die Augen führte. Wie Schade, daß dieses wahre Genie, welches sich so glänzend ankün- digte, nicht nachher das Studium der Poesie fortgesetzt hat! Sein Geist scheint mir mit dem des Julio Romano innig verwandt; dieselbe Fülle und Lieblichkeit, das Scharfe und Bizarre der Gedanken, und dieselbe Sucht zur Ueber- treibung.
Nach einigen Wendungen des Gespräches kam man auf die Seltsamkeit der Träume, und wie wunderbar sich, das Ahndungsvermögen des Menschen oftmals in ihnen offenbare, und nach- dem einige Beispiele erzählt waren sagte Anton: mir ist eine Geschichte dieser Art bekannt, die mir glaubwürdige Freunde als eine unbezwei- felt wahre mitgetheilt haben, und die ich Ihnen noch vortragen will, da sie uns nicht lange auf-
Erſte Abtheilung.
tur, der lyriſche Schwung der Geſaͤnge, die ſchoͤn gewaͤhlten und kraͤftig ausgefuͤhrten Bil- der haben mich jedesmal bis zur Entzuͤckung hin- geriſſen. Trefflich, wenn gleich nicht von dieſer Vollendung, iſt ſeine Schaafſchur, reicher als dieſes Gemaͤhlde aus unſerer Zeit, ſein Nußker- nen. In dem Gedicht „Adams erſtes Erwa- chen“ befindet er ſich freilich auch zuweilen in jener Leere, die ſich nicht poetiſch bevoͤlkern laͤßt, aber einzelne Stellen ſind von großer Schoͤn- heit, und in der Darſtellung der Thiere ſcheint er mir einzig; ich weiß wenigſtens keinen Dich- ter, der ſie uns mit dieſer geiſtigen Lebendigkeit vor die Augen fuͤhrte. Wie Schade, daß dieſes wahre Genie, welches ſich ſo glaͤnzend ankuͤn- digte, nicht nachher das Studium der Poeſie fortgeſetzt hat! Sein Geiſt ſcheint mir mit dem des Julio Romano innig verwandt; dieſelbe Fuͤlle und Lieblichkeit, das Scharfe und Bizarre der Gedanken, und dieſelbe Sucht zur Ueber- treibung.
Nach einigen Wendungen des Geſpraͤches kam man auf die Seltſamkeit der Traͤume, und wie wunderbar ſich, das Ahndungsvermoͤgen des Menſchen oftmals in ihnen offenbare, und nach- dem einige Beiſpiele erzaͤhlt waren ſagte Anton: mir iſt eine Geſchichte dieſer Art bekannt, die mir glaubwuͤrdige Freunde als eine unbezwei- felt wahre mitgetheilt haben, und die ich Ihnen noch vortragen will, da ſie uns nicht lange auf-
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Erſte Abtheilung.
tur, der lyriſche Schwung der Geſaͤnge, die
ſchoͤn gewaͤhlten und kraͤftig ausgefuͤhrten Bil-
der haben mich jedesmal bis zur Entzuͤckung hin-
geriſſen. Trefflich, wenn gleich nicht von dieſer
Vollendung, iſt ſeine Schaafſchur, reicher als
dieſes Gemaͤhlde aus unſerer Zeit, ſein Nußker-
nen. In dem Gedicht „Adams erſtes Erwa-
chen“ befindet er ſich freilich auch zuweilen in
jener Leere, die ſich nicht poetiſch bevoͤlkern laͤßt,
aber einzelne Stellen ſind von großer Schoͤn-
heit, und in der Darſtellung der Thiere ſcheint
er mir einzig; ich weiß wenigſtens keinen Dich-
ter, der ſie uns mit dieſer geiſtigen Lebendigkeit
vor die Augen fuͤhrte. Wie Schade, daß dieſes
wahre Genie, welches ſich ſo glaͤnzend ankuͤn-
digte, nicht nachher das Studium der Poeſie
fortgeſetzt hat! Sein Geiſt ſcheint mir mit dem
des Julio Romano innig verwandt; dieſelbe
Fuͤlle und Lieblichkeit, das Scharfe und Bizarre
der Gedanken, und dieſelbe Sucht zur Ueber-
treibung.
Nach einigen Wendungen des Geſpraͤches
kam man auf die Seltſamkeit der Traͤume, und
wie wunderbar ſich, das Ahndungsvermoͤgen des
Menſchen oftmals in ihnen offenbare, und nach-
dem einige Beiſpiele erzaͤhlt waren ſagte Anton:
mir iſt eine Geſchichte dieſer Art bekannt, die
mir glaubwuͤrdige Freunde als eine unbezwei-
felt wahre mitgetheilt haben, und die ich Ihnen
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/471>, abgerufen am 16.07.2024.
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