Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
huben sich höher, die Obstbäume blühten wie nie-
mals, und ein schwellender duftender Seegen hing
schwer in Blüthenwolken über der Landschaft. Al-
les gedieh über Erwarten, kein rauher Tag, kein
Sturm beschädigte die Frucht; der Wein quoll er-
röthend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh-
ner des Ortes staunten sich an, und waren wie
in einem süßen Traum befangen. Das folgende
Jahr war eben so, aber man war schon an das
Wundersame mehr gewöhnt. Im Herbst gab Ma-
rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer
Eltern nach: sie ward seine Braut und im Winter
mit ihm verheirathet.

Oft dachte sie mit inniger Sehnsucht an ihren
Aufenthalt hinter den Tannenbäumen zurück; sie
blieb still und ernst. So schön auch alles war, was
sie umgab, so kannte sie doch etwas noch Schöne-
res, wodurch eine leise Trauer ihr Wesen zu einer
sanften Schwermuth stimmte. Schmerzhaft traf
es sie, wenn der Vater oder ihr Mann von den
Zigeunern und Schelmen sprachen, die im finstern
Grunde wohnten; oft wollte sie sie vertheidigen,
die sie als die Wohlthäter der Gegend kannte, vor-
züglich gegen Andres, der eine Lust im eifrigen
Schelten zu finden schien, aber sie zwang das
Wort jedesmal in ihre Brust zurück. So ver-
lebte sie das Jahr, und im folgenden ward sie
durch eine junge Tochter erfreut, welche sie El-
friede nannte, indem sie dabei an den Namen der
Elfen dachte.

Die jungen Leute wohnten mit Martin und

Erſte Abtheilung.
huben ſich hoͤher, die Obſtbaͤume bluͤhten wie nie-
mals, und ein ſchwellender duftender Seegen hing
ſchwer in Bluͤthenwolken uͤber der Landſchaft. Al-
les gedieh uͤber Erwarten, kein rauher Tag, kein
Sturm beſchaͤdigte die Frucht; der Wein quoll er-
roͤthend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh-
ner des Ortes ſtaunten ſich an, und waren wie
in einem ſuͤßen Traum befangen. Das folgende
Jahr war eben ſo, aber man war ſchon an das
Wunderſame mehr gewoͤhnt. Im Herbſt gab Ma-
rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer
Eltern nach: ſie ward ſeine Braut und im Winter
mit ihm verheirathet.

Oft dachte ſie mit inniger Sehnſucht an ihren
Aufenthalt hinter den Tannenbaͤumen zuruͤck; ſie
blieb ſtill und ernſt. So ſchoͤn auch alles war, was
ſie umgab, ſo kannte ſie doch etwas noch Schoͤne-
res, wodurch eine leiſe Trauer ihr Weſen zu einer
ſanften Schwermuth ſtimmte. Schmerzhaft traf
es ſie, wenn der Vater oder ihr Mann von den
Zigeunern und Schelmen ſprachen, die im finſtern
Grunde wohnten; oft wollte ſie ſie vertheidigen,
die ſie als die Wohlthaͤter der Gegend kannte, vor-
zuͤglich gegen Andres, der eine Luſt im eifrigen
Schelten zu finden ſchien, aber ſie zwang das
Wort jedesmal in ihre Bruſt zuruͤck. So ver-
lebte ſie das Jahr, und im folgenden ward ſie
durch eine junge Tochter erfreut, welche ſie El-
friede nannte, indem ſie dabei an den Namen der
Elfen dachte.

Die jungen Leute wohnten mit Martin und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0431" n="420"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
huben &#x017F;ich ho&#x0364;her, die Ob&#x017F;tba&#x0364;ume blu&#x0364;hten wie nie-<lb/>
mals, und ein &#x017F;chwellender duftender Seegen hing<lb/>
&#x017F;chwer in Blu&#x0364;thenwolken u&#x0364;ber der Land&#x017F;chaft. Al-<lb/>
les gedieh u&#x0364;ber Erwarten, kein rauher Tag, kein<lb/>
Sturm be&#x017F;cha&#x0364;digte die Frucht; der Wein quoll er-<lb/>
ro&#x0364;thend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh-<lb/>
ner des Ortes &#x017F;taunten &#x017F;ich an, und waren wie<lb/>
in einem &#x017F;u&#x0364;ßen Traum befangen. Das folgende<lb/>
Jahr war eben &#x017F;o, aber man war &#x017F;chon an das<lb/>
Wunder&#x017F;ame mehr gewo&#x0364;hnt. Im Herb&#x017F;t gab Ma-<lb/>
rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer<lb/>
Eltern nach: &#x017F;ie ward &#x017F;eine Braut und im Winter<lb/>
mit ihm verheirathet.</p><lb/>
          <p>Oft dachte &#x017F;ie mit inniger Sehn&#x017F;ucht an ihren<lb/>
Aufenthalt hinter den Tannenba&#x0364;umen zuru&#x0364;ck; &#x017F;ie<lb/>
blieb &#x017F;till und ern&#x017F;t. So &#x017F;cho&#x0364;n auch alles war, was<lb/>
&#x017F;ie umgab, &#x017F;o kannte &#x017F;ie doch etwas noch Scho&#x0364;ne-<lb/>
res, wodurch eine lei&#x017F;e Trauer ihr We&#x017F;en zu einer<lb/>
&#x017F;anften Schwermuth &#x017F;timmte. Schmerzhaft traf<lb/>
es &#x017F;ie, wenn der Vater oder ihr Mann von den<lb/>
Zigeunern und Schelmen &#x017F;prachen, die im fin&#x017F;tern<lb/>
Grunde wohnten; oft wollte &#x017F;ie &#x017F;ie vertheidigen,<lb/>
die &#x017F;ie als die Wohltha&#x0364;ter der Gegend kannte, vor-<lb/>
zu&#x0364;glich gegen Andres, der eine Lu&#x017F;t im eifrigen<lb/>
Schelten zu finden &#x017F;chien, aber &#x017F;ie zwang das<lb/>
Wort jedesmal in ihre Bru&#x017F;t zuru&#x0364;ck. So ver-<lb/>
lebte &#x017F;ie das Jahr, und im folgenden ward &#x017F;ie<lb/>
durch eine junge Tochter erfreut, welche &#x017F;ie El-<lb/>
friede nannte, indem &#x017F;ie dabei an den Namen der<lb/>
Elfen dachte.</p><lb/>
          <p>Die jungen Leute wohnten mit Martin und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[420/0431] Erſte Abtheilung. huben ſich hoͤher, die Obſtbaͤume bluͤhten wie nie- mals, und ein ſchwellender duftender Seegen hing ſchwer in Bluͤthenwolken uͤber der Landſchaft. Al- les gedieh uͤber Erwarten, kein rauher Tag, kein Sturm beſchaͤdigte die Frucht; der Wein quoll er- roͤthend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh- ner des Ortes ſtaunten ſich an, und waren wie in einem ſuͤßen Traum befangen. Das folgende Jahr war eben ſo, aber man war ſchon an das Wunderſame mehr gewoͤhnt. Im Herbſt gab Ma- rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer Eltern nach: ſie ward ſeine Braut und im Winter mit ihm verheirathet. Oft dachte ſie mit inniger Sehnſucht an ihren Aufenthalt hinter den Tannenbaͤumen zuruͤck; ſie blieb ſtill und ernſt. So ſchoͤn auch alles war, was ſie umgab, ſo kannte ſie doch etwas noch Schoͤne- res, wodurch eine leiſe Trauer ihr Weſen zu einer ſanften Schwermuth ſtimmte. Schmerzhaft traf es ſie, wenn der Vater oder ihr Mann von den Zigeunern und Schelmen ſprachen, die im finſtern Grunde wohnten; oft wollte ſie ſie vertheidigen, die ſie als die Wohlthaͤter der Gegend kannte, vor- zuͤglich gegen Andres, der eine Luſt im eifrigen Schelten zu finden ſchien, aber ſie zwang das Wort jedesmal in ihre Bruſt zuruͤck. So ver- lebte ſie das Jahr, und im folgenden ward ſie durch eine junge Tochter erfreut, welche ſie El- friede nannte, indem ſie dabei an den Namen der Elfen dachte. Die jungen Leute wohnten mit Martin und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/431
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/431>, abgerufen am 22.11.2024.