sie hatte einige Nahrung mit sich genommen. Um sich unkenntlich zu machen, verbarg sie ihre lan- gen goldenen Haare und zog einen Schleier über ihr Gesicht; sie suchte auch ihre Kleidung zu ver- ändern. So kam sie durch manche Dörfer und Städte und blieb immer betrübt.
Nach einer Wanderung von vielen Tagen stand sie gegen Abend auf einer freundlichen stillen Wiese, gegenüber lag eine kleine Hütte, und Vieh wei- dete auf den nahen Hügeln, das mit seinen Klok- ken ein angenehmes Getöne durch die Ruhe des Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald, und Magelonens Seele wurde hier zum erstenmale noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da- her den Wunsch, in dieser friedlichen Gegend zu wohnen. Sie ging auf die Hütte zu, aus der ihr ein alter Schäfer entgegen trat, der hier mit seiner Frau sich angesiedelt hatte, und fern von der Welt und den Menschen fromme Lämmer groß zog, und einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und flehte als eine Unglückliche um Schutz und Hülfe. Er nahm sie gerne auf, und sie unterzog sich den Diensten willig, die sie leisten konnte, dabei aber verschwieg sie ihrem Wirthe ihre Geschichte. Es geschah manchmal, daß sie einem Unglücklichen bei- stehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die nahgelegene Küste trieb, und dann zeigte sich be- sonders Magelone hülfreich und thätig. Wenn die Alten ausgingen, bewachte sie das Haus, und sang dann manchmal in der Einsamkeit mit der Spindel vor der Thüre sitzend:
Die ſchoͤne Magelone.
ſie hatte einige Nahrung mit ſich genommen. Um ſich unkenntlich zu machen, verbarg ſie ihre lan- gen goldenen Haare und zog einen Schleier uͤber ihr Geſicht; ſie ſuchte auch ihre Kleidung zu ver- aͤndern. So kam ſie durch manche Doͤrfer und Staͤdte und blieb immer betruͤbt.
Nach einer Wanderung von vielen Tagen ſtand ſie gegen Abend auf einer freundlichen ſtillen Wieſe, gegenuͤber lag eine kleine Huͤtte, und Vieh wei- dete auf den nahen Huͤgeln, das mit ſeinen Klok- ken ein angenehmes Getoͤne durch die Ruhe des Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald, und Magelonens Seele wurde hier zum erſtenmale noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da- her den Wunſch, in dieſer friedlichen Gegend zu wohnen. Sie ging auf die Huͤtte zu, aus der ihr ein alter Schaͤfer entgegen trat, der hier mit ſeiner Frau ſich angeſiedelt hatte, und fern von der Welt und den Menſchen fromme Laͤmmer groß zog, und einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und flehte als eine Ungluͤckliche um Schutz und Huͤlfe. Er nahm ſie gerne auf, und ſie unterzog ſich den Dienſten willig, die ſie leiſten konnte, dabei aber verſchwieg ſie ihrem Wirthe ihre Geſchichte. Es geſchah manchmal, daß ſie einem Ungluͤcklichen bei- ſtehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die nahgelegene Kuͤſte trieb, und dann zeigte ſich be- ſonders Magelone huͤlfreich und thaͤtig. Wenn die Alten ausgingen, bewachte ſie das Haus, und ſang dann manchmal in der Einſamkeit mit der Spindel vor der Thuͤre ſitzend:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0384"n="373"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Die ſchoͤne Magelone</hi>.</fw><lb/>ſie hatte einige Nahrung mit ſich genommen. Um<lb/>ſich unkenntlich zu machen, verbarg ſie ihre lan-<lb/>
gen goldenen Haare und zog einen Schleier uͤber<lb/>
ihr Geſicht; ſie ſuchte auch ihre Kleidung zu ver-<lb/>
aͤndern. So kam ſie durch manche Doͤrfer und<lb/>
Staͤdte und blieb immer betruͤbt.</p><lb/><p>Nach einer Wanderung von vielen Tagen ſtand<lb/>ſie gegen Abend auf einer freundlichen ſtillen Wieſe,<lb/>
gegenuͤber lag eine kleine Huͤtte, und Vieh wei-<lb/>
dete auf den nahen Huͤgeln, das mit ſeinen Klok-<lb/>
ken ein angenehmes Getoͤne durch die Ruhe des<lb/>
Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald,<lb/>
und Magelonens Seele wurde hier zum erſtenmale<lb/>
noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da-<lb/>
her den Wunſch, in dieſer friedlichen Gegend zu<lb/>
wohnen. Sie ging auf die Huͤtte zu, aus der ihr<lb/>
ein alter Schaͤfer entgegen trat, der hier mit ſeiner<lb/>
Frau ſich angeſiedelt hatte, und fern von der Welt<lb/>
und den Menſchen fromme Laͤmmer groß zog, und<lb/>
einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und<lb/>
flehte als eine Ungluͤckliche um Schutz und Huͤlfe.<lb/>
Er nahm ſie gerne auf, und ſie unterzog ſich den<lb/>
Dienſten willig, die ſie leiſten konnte, dabei aber<lb/>
verſchwieg ſie ihrem Wirthe ihre Geſchichte. Es<lb/>
geſchah manchmal, daß ſie einem Ungluͤcklichen bei-<lb/>ſtehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die<lb/>
nahgelegene Kuͤſte trieb, und dann zeigte ſich be-<lb/>ſonders Magelone huͤlfreich und thaͤtig. Wenn die<lb/>
Alten ausgingen, bewachte ſie das Haus, und ſang<lb/>
dann manchmal in der Einſamkeit mit der Spindel<lb/>
vor der Thuͤre ſitzend:</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[373/0384]
Die ſchoͤne Magelone.
ſie hatte einige Nahrung mit ſich genommen. Um
ſich unkenntlich zu machen, verbarg ſie ihre lan-
gen goldenen Haare und zog einen Schleier uͤber
ihr Geſicht; ſie ſuchte auch ihre Kleidung zu ver-
aͤndern. So kam ſie durch manche Doͤrfer und
Staͤdte und blieb immer betruͤbt.
Nach einer Wanderung von vielen Tagen ſtand
ſie gegen Abend auf einer freundlichen ſtillen Wieſe,
gegenuͤber lag eine kleine Huͤtte, und Vieh wei-
dete auf den nahen Huͤgeln, das mit ſeinen Klok-
ken ein angenehmes Getoͤne durch die Ruhe des
Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald,
und Magelonens Seele wurde hier zum erſtenmale
noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da-
her den Wunſch, in dieſer friedlichen Gegend zu
wohnen. Sie ging auf die Huͤtte zu, aus der ihr
ein alter Schaͤfer entgegen trat, der hier mit ſeiner
Frau ſich angeſiedelt hatte, und fern von der Welt
und den Menſchen fromme Laͤmmer groß zog, und
einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und
flehte als eine Ungluͤckliche um Schutz und Huͤlfe.
Er nahm ſie gerne auf, und ſie unterzog ſich den
Dienſten willig, die ſie leiſten konnte, dabei aber
verſchwieg ſie ihrem Wirthe ihre Geſchichte. Es
geſchah manchmal, daß ſie einem Ungluͤcklichen bei-
ſtehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die
nahgelegene Kuͤſte trieb, und dann zeigte ſich be-
ſonders Magelone huͤlfreich und thaͤtig. Wenn die
Alten ausgingen, bewachte ſie das Haus, und ſang
dann manchmal in der Einſamkeit mit der Spindel
vor der Thuͤre ſitzend:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/384>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.