Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
Vaters und ihrer Mutter zu hören, und so trieb
sich ihr Gemüth unter Phantasien auf und ab,
bis der Morgen empor kam. Wie verschieden war
diese Morgenröthe von der gestrigen! Wie weit
stand jetzt die Hofnung weg, die gestern noch mit
leichten Flügeln wie ein blauer Schmetterling vor
ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben
Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf-
suchte und auf sie hindeutete.

Das Waldgeflügel ließ seine Gesänge wieder
klingen, das frühe Roth arbeitete sich durch den
dichten Wald, schlich gebückt und wundersam
durch die niedrigen Gesträuche, und weckte Gras
und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro-
then Flammen und der Nebel wand sich in golde-
nen Säulen um die Baumstämme. Magelone hatte
in der Nacht beschlossen, nicht zu ihrem Vater zu-
rückzukehren, denn sie fürchtete seinen Zorn, sie
wollte irgend eine stille Wohnung aufsuchen, von
den Menschen abgesondert, dort immer an ihren
Geliebten denken und so in Frömmigkeit und Treue
hinsterben. Sie stieg daher vom Baum herunter
und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch
angebunden standen, und den Kopf betrübt zur Erde
senkten. Sie löste ihre Zügel, so daß sie gehn
konnten, wohin sie wollten, indem sie sagte: so
wandert nun auch hin durch die weite traurige
Welt, und suchet euren Herren wieder, so wie ich
ihn suchen will. Die Rosse gingen betrübt fort,
jedes einen andern Weg.

Magelone wanderte durch die dichten Wälder,

Erſte Abtheilung.
Vaters und ihrer Mutter zu hoͤren, und ſo trieb
ſich ihr Gemuͤth unter Phantaſien auf und ab,
bis der Morgen empor kam. Wie verſchieden war
dieſe Morgenroͤthe von der geſtrigen! Wie weit
ſtand jetzt die Hofnung weg, die geſtern noch mit
leichten Fluͤgeln wie ein blauer Schmetterling vor
ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben
Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf-
ſuchte und auf ſie hindeutete.

Das Waldgefluͤgel ließ ſeine Geſaͤnge wieder
klingen, das fruͤhe Roth arbeitete ſich durch den
dichten Wald, ſchlich gebuͤckt und wunderſam
durch die niedrigen Geſtraͤuche, und weckte Gras
und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro-
then Flammen und der Nebel wand ſich in golde-
nen Saͤulen um die Baumſtaͤmme. Magelone hatte
in der Nacht beſchloſſen, nicht zu ihrem Vater zu-
ruͤckzukehren, denn ſie fuͤrchtete ſeinen Zorn, ſie
wollte irgend eine ſtille Wohnung aufſuchen, von
den Menſchen abgeſondert, dort immer an ihren
Geliebten denken und ſo in Froͤmmigkeit und Treue
hinſterben. Sie ſtieg daher vom Baum herunter
und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch
angebunden ſtanden, und den Kopf betruͤbt zur Erde
ſenkten. Sie loͤſte ihre Zuͤgel, ſo daß ſie gehn
konnten, wohin ſie wollten, indem ſie ſagte: ſo
wandert nun auch hin durch die weite traurige
Welt, und ſuchet euren Herren wieder, ſo wie ich
ihn ſuchen will. Die Roſſe gingen betruͤbt fort,
jedes einen andern Weg.

Magelone wanderte durch die dichten Waͤlder,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0383" n="372"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
Vaters und ihrer Mutter zu ho&#x0364;ren, und &#x017F;o trieb<lb/>
&#x017F;ich ihr Gemu&#x0364;th unter Phanta&#x017F;ien auf und ab,<lb/>
bis der Morgen empor kam. Wie ver&#x017F;chieden war<lb/>
die&#x017F;e Morgenro&#x0364;the von der ge&#x017F;trigen! Wie weit<lb/>
&#x017F;tand jetzt die Hofnung weg, die ge&#x017F;tern noch mit<lb/>
leichten Flu&#x0364;geln wie ein blauer Schmetterling vor<lb/>
ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben<lb/>
Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf-<lb/>
&#x017F;uchte und auf &#x017F;ie hindeutete.</p><lb/>
            <p>Das Waldgeflu&#x0364;gel ließ &#x017F;eine Ge&#x017F;a&#x0364;nge wieder<lb/>
klingen, das fru&#x0364;he Roth arbeitete &#x017F;ich durch den<lb/>
dichten Wald, &#x017F;chlich gebu&#x0364;ckt und wunder&#x017F;am<lb/>
durch die niedrigen Ge&#x017F;tra&#x0364;uche, und weckte Gras<lb/>
und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro-<lb/>
then Flammen und der Nebel wand &#x017F;ich in golde-<lb/>
nen Sa&#x0364;ulen um die Baum&#x017F;ta&#x0364;mme. Magelone hatte<lb/>
in der Nacht be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, nicht zu ihrem Vater zu-<lb/>
ru&#x0364;ckzukehren, denn &#x017F;ie fu&#x0364;rchtete &#x017F;einen Zorn, &#x017F;ie<lb/>
wollte irgend eine &#x017F;tille Wohnung auf&#x017F;uchen, von<lb/>
den Men&#x017F;chen abge&#x017F;ondert, dort immer an ihren<lb/>
Geliebten denken und &#x017F;o in Fro&#x0364;mmigkeit und Treue<lb/>
hin&#x017F;terben. Sie &#x017F;tieg daher vom Baum herunter<lb/>
und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch<lb/>
angebunden &#x017F;tanden, und den Kopf betru&#x0364;bt zur Erde<lb/>
&#x017F;enkten. Sie lo&#x0364;&#x017F;te ihre Zu&#x0364;gel, &#x017F;o daß &#x017F;ie gehn<lb/>
konnten, wohin &#x017F;ie wollten, indem &#x017F;ie &#x017F;agte: &#x017F;o<lb/>
wandert nun auch hin durch die weite traurige<lb/>
Welt, und &#x017F;uchet euren Herren wieder, &#x017F;o wie ich<lb/>
ihn &#x017F;uchen will. Die Ro&#x017F;&#x017F;e gingen betru&#x0364;bt fort,<lb/>
jedes einen andern Weg.</p><lb/>
            <p>Magelone wanderte durch die dichten Wa&#x0364;lder,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[372/0383] Erſte Abtheilung. Vaters und ihrer Mutter zu hoͤren, und ſo trieb ſich ihr Gemuͤth unter Phantaſien auf und ab, bis der Morgen empor kam. Wie verſchieden war dieſe Morgenroͤthe von der geſtrigen! Wie weit ſtand jetzt die Hofnung weg, die geſtern noch mit leichten Fluͤgeln wie ein blauer Schmetterling vor ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf- ſuchte und auf ſie hindeutete. Das Waldgefluͤgel ließ ſeine Geſaͤnge wieder klingen, das fruͤhe Roth arbeitete ſich durch den dichten Wald, ſchlich gebuͤckt und wunderſam durch die niedrigen Geſtraͤuche, und weckte Gras und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro- then Flammen und der Nebel wand ſich in golde- nen Saͤulen um die Baumſtaͤmme. Magelone hatte in der Nacht beſchloſſen, nicht zu ihrem Vater zu- ruͤckzukehren, denn ſie fuͤrchtete ſeinen Zorn, ſie wollte irgend eine ſtille Wohnung aufſuchen, von den Menſchen abgeſondert, dort immer an ihren Geliebten denken und ſo in Froͤmmigkeit und Treue hinſterben. Sie ſtieg daher vom Baum herunter und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch angebunden ſtanden, und den Kopf betruͤbt zur Erde ſenkten. Sie loͤſte ihre Zuͤgel, ſo daß ſie gehn konnten, wohin ſie wollten, indem ſie ſagte: ſo wandert nun auch hin durch die weite traurige Welt, und ſuchet euren Herren wieder, ſo wie ich ihn ſuchen will. Die Roſſe gingen betruͤbt fort, jedes einen andern Weg. Magelone wanderte durch die dichten Waͤlder,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/383
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/383>, abgerufen am 25.11.2024.